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Kampf gegen Abtreibungen in Russland
Putin vermisst den Nachwuchs

Russian President Vladimir Putin, right, speaks to a woman as he visits a newly opened maternity center in Bryansk, some 350 km (218 miles) south-west of Moscow, Russia, Wednesday, March 8, 2017. (Alexei Druzhinin, Sputnik, Kremlin Pool Photo via AP)
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Wladimir Putin raschelte mit den Statistikblättern, gleich zweimal sprach er im Rat für strategische Entwicklung von einer «schwierigen Lage» in Russland. Einmal seufzte er sogar. Der Kremlchef ist unzufrieden mit der Geburtenrate.

Seit 2014 kommen in Russland Jahr für Jahr weniger Kinder auf die Welt. Im ersten Halbjahr 2022, als Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, ist die Geburtenrate sogar um weitere 6,3 Prozent gesunken. Die russische Bevölkerung schrumpft. Wenn die Statistikbehörde Rosstat recht behält, sogar um 8 Millionen in den nächsten 23 Jahren. Dann gäbe es nur noch 139 Millionen Menschen in Russland. Zu wenig, findet Putin.

Im Kampf gegen das demografische Dilemma konzentrieren sich der Kremlchef und die russische Regierung vor allem auf «das Problem der Abtreibung», wie Putin es formuliert hat. Das ist für die Regierung sehr viel günstiger und leichter, als mit höheren Sozialleistungen um grössere Familien zu werben oder mehr Wohlstand zu schaffen, der einen Babyboom auslösen könnte.

Im Kriegsjahr 2022 wurden so viele Abtreibungsmedikamente verkauft wie nie zuvor.

Zudem passt eine Kampagne gegen Abtreibungen aus Moskauer Sicht bestens zu den gepredigten neuen, konservativen Familienwerten in Russland. Gesundheitsminister Michail Muraschko nannte es sogar bösartig, Kinderwünsche wegen der Karriere zu verschieben. Die mächtige russisch-orthodoxe Kirche hat Putin ohnehin auf seiner Seite.

Nach einem Bericht der Zeitung «Kommersant» sind im Kriegsjahr 2022 so viele Abtreibungsmedikamente verkauft worden wie nie zuvor in Russland – 60 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Das liege an der «militärischen Spezialoperation», also am Krieg, an der Mobilisierung für die Armee, den Sanktionen und am gesunkenen Wohlstand, zitiert die Zeitung den Direktor des Pharmaunternehmens RNC Pharma, Nikolai Bespalow. Es sind schlechte Zeiten, um eine Familie zu gründen.

Eingeschränkter Verkauf von Abtreibungsmedikamenten

Sogar die Direktorin der Stiftung Frauen für das Leben, einer Lobbyorganisation gegen Abtreibungen, räumte den Zusammenhang zwischen Militär, Politik und Schwangerschaftsabbrüchen ein. Nach der Mobilisierungswelle sei Abtreibung die erste Reaktion vieler Frauen gewesen, die ein Kind erwarteten und deren Mann wohl in die Armee eingezogen würde. «Ein Kind wäre da weiterer Stress», sagte Natalia Moskwitina.

Putin hat deshalb ein Verbot von Abtreibungsmedikamenten angeregt. Und das Gesundheitsministerium reagierte: Im nächsten Jahr wird der Verkauf eingeschränkt.

Russian Orthodox Patriarch Kirill meets with Italian Cardinal Matteo Zuppi, Pope Francis' Ukraine peace envoy, in Moscow on June 29, 2023. (Photo by Oleg VAROV / Moscow Patriarchate / AFP) / RESTRICTED TO EDITORIAL USE - MANDATORY CREDIT "AFP PHOTO / Moscow Patriarchate / Oleg Varov" - NO MARKETING NO ADVERTISING CAMPAIGNS - DISTRIBUTED AS A SERVICE TO CLIENTS

Doch dabei bleibt es nicht: In einem Brief an die russische Duma hat Patriarch Kyrill vor wenigen Tagen darum gebeten, Abtreibungen in russischen Privatkliniken landesweit zu verbieten. Der Erhalt der Menschheit sei eine Frage der nationalen Sicherheit, schrieb das orthodoxe Kirchenoberhaupt. Kaum war der Brief abgeschickt, wies Duma-Chef Wjatscheslaw Wolodin den Gesundheitsausschuss an, den Vorschlag des Patriarchen zu prüfen. Einige Provinzen sind da schon weiter.

Als sie spürten, wie sich in Moskau der Wind drehte, haben in den vergangenen Tagen und Wochen mehrere russische Regionen vorauseilend eigene Gesetze gegen Abtreibungen erlassen. Die Gebiete Kursk und Tscheljabinsk preschten vor, auch Tatarstan sowie die annektierte Krim haben die Abtreibung in privaten Kliniken bereits verboten. Die Regionen Twer und Mordwinien bestrafen jetzt ihre Bürger sogar, wenn sie eine Frau «überreden, täuschen, bestechen» oder ihr eine Abtreibung auch nur vorschlagen.

Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Woche erlaubt

Russland ist bei Abtreibungen traditionell ein liberales Land gewesen. Revolutionsführer Wladimir Lenin hat sie noch vor Gründung der Sowjetunion legalisiert. Im jetzigen Russland sind Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Woche erlaubt, im Fall einer Vergewaltigung bis zur 22. Woche, wenn es medizinisch geboten ist, ohne jede Frist. Die Abtreibungsgegnerin Moskwitina behauptet nun jedoch: «Heute ist unser Land ein Flaggschiff traditioneller Familienwerte.»

Wäre Russland ein freies Land, würden viele Frauen vermutlich ähnlich wie in Polen gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts demonstrieren. Vielleicht ist es die Moskauer Sorge vor landesweiten Protesten in Zeiten des Krieges, dass zunächst nur einzelne Provinzen Abtreibungen bloss noch in staatlichen Spitälern erlauben.

«Die Tentakel der Regierung rücken unserem Uterus und unserem Körper näher und näher.»

Eva Krestowiz, Frauenaktivistin

Ob und wie viel Druck dort auf Frauen ausgeübt wird, lässt sich nur erahnen aus dem, was der Kursker Vizegouverneur Andrei Belostozki der Nachrichtenagentur Ria Kursk sagte: «Wir arbeiten aktiv mit den Frauen, befragen sie ausführlich, finden heraus, welche Probleme sie zur Abtreibung bewegen, helfen ihnen und geben ihnen Zeit zum Nachdenken.»

Bei vielen Frauen in Russland geht nun die Angst um, dass mit dem Vorschlag des mächtigen, Putin-loyalen Patriarchen Kyrill in ganz Russland das liberale Abtreibungsrecht eingeschränkt wird. «Die Tentakel der Regierung rücken unserem Uterus und unserem Körper näher und näher», sagte die Frauenaktivistin Eva Krestowiz aus der Republik Baschkortostan. «Die Aussichten für die Zukunft sind ein Horror.»

Bei einer kleineren Demonstration im August warnten Frauen in Tscheljabinsk eindringlich vor einem weitreichenden Verbot von Abtreibungen. Dies würde dazu führen, dass mehr ungewollte Kinder nach der Geburt getötet würden. Grosse Auswirkungen dürfte es bereits haben, wenn Schwangerschaftsabbrüche nur noch in staatlichen Kliniken erlaubt sind. Denn so viele gibt es in den Weiten der russischen Provinz nicht.

Hunderte Entbindungskliniken geschlossen

Die sonst politisch loyale Zeitung «Moskowski Komsomolez» schrieb am Mittwoch über einen Meinungsbeitrag die bissige Zeile: «Gebären auf dem Felde». Russische Frauen sollten ja jetzt nonstop schwanger werden und Kinder bekommen, schreibt die Autorin, aber sie würde den verehrten Gesetzgebern schon gern diese wichtige Frage stellen: «Verzeihung, wo denn?» Hunderte Entbindungshäuser seien in den vergangenen zehn Jahren geschlossen worden.

Und manche Regionen in Russland seien so gross wie Frankreich, Deutschland oder die Schweiz. «Wann haben Sie zuletzt eine Frau mit vielen Kindern gesehen, wenn sie nicht die Frau eines Oligarchen ist?», fragt sie in dem Artikel. Wie so oft in Russland: Kritisiert werden Abgeordnete und Senatoren – nicht aber Putin, der seit 23 Jahren herrscht.