Arbeitszeiten von über 50 StundenJunge Spitalärzte laufen am Limit
Oberärztinnen und Assistenzärzte leiden zunehmend an Erschöpfung und sehen die Patientensicherheit gefährdet. Die meisten arbeiten laut einer Befragung mehr, als das Gesetz erlaubt.
Sie fühlen sich ausgelaugt, körperlich und emotional erschöpft, denken immer wieder mal ans Aufhören. Fast der Hälfte der Oberärztinnen und Assistenzärzte an den Schweizer Spitälern ergeht es laut einer aktuellen Befragung so. Zwei Drittel geben an, sich «meistens oder häufig müde» zu fühlen. Kein Wunder: Die Hälfte der Ärztinnen und Ärzte arbeitet entgegen den gesetzlichen Vorgaben im Schnitt mehr als 50 Stunden pro Woche. Dies zeigt die jüngste Befragung des Verbandes Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO), an der 3240 Mitglieder teilnahmen.
Zwar ist die effektive Arbeitsbelastung mit 50,7 Stunden pro Woche seit der letzten Befragung vor drei Jahren ungefähr gleich geblieben. Aber dies vor allem deshalb, weil nun noch mehr Oberärzte und Assistenzärztinnen Teilzeit arbeiten. Bei zwei Drittel der Befragten wird jedoch die wöchentlich vereinbarte Arbeitszeit – Teilzeit oder Vollzeit – nicht eingehalten. Bei zwei Drittel der Oberärztinnen und Assistenzärzte werde gegen das Arbeitsgesetz verstossen, so das Fazit der vom Institut Demoscope durchgeführten Befragung.
52 Prozent der Assistenz- und Oberärzte denken denn auch ab und zu ans Aufhören. Bei der letzten Befragung waren es noch 39 Prozent gewesen. Immer wieder ans Limit geraten vor allem jene, die wöchentlich über 60 Stunden arbeiten. Von ihnen gaben 77 Prozent zu Protokoll: «Ich kann nicht mehr.» (Lesen Sie dazu: «Wir machten uns kaputt»: Sie waren Ärzte und stiegen aus)
Anna Wang, Präsidentin des VSAO Zürich, erhält immer wieder Rückmeldungen von Ärztinnen und Ärzten, die am Ende der Assistenzzeit, also kurz vor dem Erwerb des Facharzttitels, aus der klinischen Arbeit aussteigen wollen. «Für viele ist vor allem die Belastung durch administrative Arbeiten ermüdend und frustrierend, denn sie haben den Beruf gewählt, um Patientinnen und Patienten zu betreuen.» Die Administrativarbeit bleibe meist an den Assistenzärzten hängen, sagt Wang, die als Oberärztin in der plastischen Chirurgie am Kantonsspital Aarau arbeitet.
Die Übermüdung gefährdet Patienten
VSAO-Präsident und SP-Nationalrat Angelo Barrile hält die Folgen der Arbeitsüberlastung für alarmierend. «Die Rückmeldungen zahlreicher junger Ärztinnen und Ärzte deuten auf eigentliche Burn-out-Symptome hin.» Die Überlastung gefährde zudem die Patientensicherheit. Tatsächlich haben fast 60 Prozent der jungen Ärztinnen und Ärzte in den letzten zwei Jahren erlebt, dass mindestens eine Patientin oder ein Patient wegen beruflich bedingter Übermüdung gefährdet wurde. Das ist der höchste Wert seit Beginn der VSAO-Befragungen vor neun Jahren.
Je mehr die Assistenz- und Oberärzte arbeiten, desto häufiger erleben sie kritische Situationen. Bei jenen, die mehr als 60 Stunden arbeiten, haben 70 Prozent mindestens eine Situation mit Patientengefährdung erlebt. Jeder zehnte Arzt, jede zehnte Ärztin gibt gar an, in den letzten zwei Jahren mindestens zehnmal eine solche Gefährdung erlebt zu haben. Zwar hätten die wenigsten Behandlungsfehler gleich tödliche Folgen, sagt Barrile, der Hausarzt ist. «Doch je mehr es zu gefährlichen Situationen kommt, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Patient oder eine Patientin auch einmal schwerwiegende Schäden erleidet.»
Viele Spitäler planten heute zum Vornherein mit einer 50-Stunden- statt mit einer 42-Stunden-Woche, kritisiert Barrile. Die Folge sei, dass bei der vorgeschriebenen wöchentlichen Weiterbildung von 4 Stunden Abstriche gemacht würden und dass schon die geringste Überzeit zur Überschreitung der gesetzlich zulässigen Arbeitszeit führe. Die Politik müsse dafür sorgen, dass der Druck auf das Spitalpersonal sowie der Kostendruck auf die Spitäler reduziert würden. Von den kantonalen Arbeitsinspektoraten erwartet Barrile,
dass sie die Spitäler konsequent auf die Einhaltung des Arbeitsgesetzes kontrollieren. «Es ist ein Trugschluss, zu meinen, dass die Einhaltung der Arbeitszeiten dazu führt, dass nicht mehr alle Patientinnen und Patienten behandelt werden können.» Ausgeruhtes Personal sei motivierter, mache weniger Fehler und steige nicht aus dem Beruf aus.
Die Frustration beim ärztlichen Spitalpersonal dürfte aber auch eine Nachwirkung der Corona-Pandemie sein. «Da hat sich viel aufgestaut, und das Personal ist seither nicht zur Ruhe gekommen», sagt Anna Wang. «Zudem findet ein Generationswechsel statt, und die junge Generation ist weniger bereit, sich für den Ärzteberuf aufzuopfern.»
Spitalverband: 42-Stunden-Woche nicht möglich
Der Spitalverband H+ hält fest, dass die Spitäler und Kliniken das Arbeitsgesetz «grundsätzlich» einhielten. Dies zeigten die Kontrollen der kantonalen Arbeitsinspektoren. «Verletzt ein Betrieb das Arbeitsgesetz, so hat dies Sanktionen zur Folge», sagt H+-Direktorin Anne Bütikofer. Eine 42-Stunden-Woche sei aber bei einer akademischen Weiterbildungsstelle nicht umsetzbar. «Ein Spital ist ein 24-Stunden-Betrieb, und wenn Patientinnen und Patienten Hilfe brauchen, kann man, zumindest im Notfall, nicht planen.» In gewissen Fachgebieten sei es zudem wichtig, möglichst viel Erfahrung am Operationstisch zu sammeln. «Dies bedeutet oft lange Arbeitstage.»
Bütikofer sieht den Grund für die hohe Belastung vor allem in den administrativen Aufgaben der Ärzte. Schuld an dieser Bürokratisierung und Überregulierung seien politische Vorgaben. Zudem verlangten die Krankenkassen oft detaillierte Unterlagen, wenn es um Behandlungen und Kostengutsprachen gehe. Anna Wang doppelt nach: «Die Politik muss dafür sorgen, dass die Ärzteschaft von der Büroarbeit entlastet wird. Wir müssen aus diesem Administrationswahn rauskommen.»
Bütikofer schlägt vor, gewisse administrative Arbeiten an medizinisch geschultes Administrationspersonal zu übertragen. Auch die Digitalisierung könne Abhilfe schaffen. Aber dazu brauche es die Einsicht der Politik, dass die Spitäler die Probleme nicht allein und nicht ohne zusätzliche finanzielle Mittel lösen könnten. Denn schon heute litten die Spitäler und Kliniken an einer Unterfinanzierung im ambulanten Bereich von 30 Prozent und im stationären Bereich von 10 Prozent.
Der VSAO will nun zusammen mit den Spitälern, Bund, Kantonen und Kassen nach Lösungen für bessere Arbeitsbedingungen suchen und organisiert deshalb am 9. Juni einen runden Tisch.
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