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Autor Jonas Lüscher im Interview
«Die Wokeness ist ein Schreckgespenst der Rechten»

Schriftsteller Jonas Lüscher posiert nachdenklich vor einem dunkelblauen Hintergrund mit rotem Poster.
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Jonas Lüscher ist einer der wichtigsten Schweizer Intellektuellen, er beeindruckte die Literaturkritik und das Lesepublikum wiederholt durch seinen visionären Scharfblick: Lüschers «Frühling der Barbaren» war eine Satire auf die Finanzindustrie, im Roman «Kraft», der 2017 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, beschäftigte er sich mit dem Fortschrittsglauben des Silicon Valleys.

Während der Pandemie wurde der heute 48-Jährige wegen einer schweren Coronaerkrankung mehrere Wochen in ein Koma versetzt. Nun kehrt Lüscher mit einem neuen Roman – «Verzauberte Vorbestimmung» – zurück, der sich mit den Folgen von Technologie beschäftigt. Lüscher lebt seit vielen Jahren in München und ist Mitglied der deutschen und der Schweizer Sozialdemokraten. Im Interview zeigt er sich besorgt über die politischen Zeitläufe, gibt aber auch Rat, was gegen die neue Härte getan werden kann.

Der frühere US-Botschafter für Österreich liess sich kürzlich mit den Worten zitieren, wir alle seien wie Katzen, während Donald Trump den Laserpointer in der Hand hält. Wie werden wir in den nächsten vier Jahren nicht zu wild herumspringenden Katzen, die uns an etwas abmühen, das wir gar nicht beeinflussen können?

Das ist ein amüsantes Bild, und es ist auch nicht ganz falsch. Wir schauen natürlich fast obsessiv auf jede von Trumps Regungen. Aber es ist eben, anders als wenn eine Katze einem Lichtpunkt hinterherjagt, kein Spiel. Trump wird für mindestens die nächsten vier Jahre der mächtigste Mann der Welt sein. Er mag gelegentlich wie ein Clown wirken, aber er ist der Herr über die grösste Volkswirtschaft und die mächtigsten Streitkräfte des Planeten. Ich würde empfehlen, ihn sehr, sehr ernst zu nehmen und sich für alles zu interessieren, was er sagt.

Einige werden vielleicht fragen: Warum sollte ich mich für die US-Politik interessieren, auf die ich sowieso keinen Einfluss habe?

Weil es darum gehen wird, ganz genau zu beobachten, was in den USA passiert, welche gesellschaftlichen Verträge gebrochen, welche Tabus fallen werden, welche Institutionen geschleift, welche sozialen Fortschritte rückgängig gemacht und wie auch andere Länder von diesen Dynamiken angesteckt werden. Und dagegen gilt es sich zu wappnen und anzukämpfen. Die Situation ist eine andere als noch vor vier Jahren.

Ja?

Ja, Trump hat diesmal, wie es scheint, auch die Wirtschaftselite auf seiner Seite. In Argentinien zersägt Milei den Staat, in Italien laviert sich eine Postfaschistin durch, Frankreich driftet in Richtung Marine Le Pens Rassemblement National. In Österreich ist die viel beschworene Brandmauer gefallen, und Kickl, einem fanatischen Verschwörungsideologen und Rechtsnationalisten, ist die Kanzlerschaft kaum mehr zu nehmen. Und auch in der CDU/CSU gibt es Kräfte, die die Brandmauer zur AfD in Frage stellen oder gleich selbst so weit nach rechts rücken, dass sie sich unversehens auf der anderen Seite der Mauer wiederfinden. Zu viele Menschen, und das macht mir grosse Sorgen, scheinen nicht mehr richtig Lust zu haben, auf das anstrengende Geschäft der Demokratie – zumindest diese Beobachtung erinnert mich dann schon etwas an die Weimarer Republik.

«Der Raum des Sagbaren hat sich ausgeweitet. Eine neue Härte wird propagiert.»

Vergleiche der heutigen Situation mit der Weimarer Repubik wirken oftmals übertrieben. In Deutschland sind die 20 Prozent Wählerinnen und Wähler der AfD immer noch klar in der Minderheit.

Das Argument hab ich auch in Österreich gehört, mit der FPÖ und ihren 29 Prozent … Kickl, nicht wirklich ein Demokrat, wird jetzt Kanzler. Vor nicht einmal zehn Jahren schienen die USA noch eine gefestigte Demokratie, mit Obama als Präsident. Es ist schon seit längerem einiges ins Rutschen gekommen, aber diese Talfahrt, scheint mir, beschleunigt sich gerade massiv. Der Raum des Sagbaren hat sich ausgeweitet. Eine neue Härte wird propagiert.

Selbst deutsche Wirtschaftsführer geben neuerdings wieder die Zuchtmeister. Zuckerberg will mehr Maskulinität in der Wirtschaft. Härte gegen alle Schwachen zu markieren, ist wieder salonfähig geworden. Ein Schweizer Bundesrat traut sich, sich öffentlich für einen verurteilten Straftäter, einen misogynen, lügenden Rassisten, einen Imperialisten und Wahlbetrüger als US-Präsidenten auszusprechen. In Deutschland traut sich Friedrich Merz, der sich seiner Kanzlerschaft schon sehr sicher ist – zu Recht, fürchte ich –, die gesetzeswidrige Zurückweisung von Geflüchteten zu fordern, und Doppelbürger, die straffällig werden, sollen die deutsche Staatsbürgerschaft verlieren. Nebst dem, dass das gegen das Grundgesetz verstösst, hat er damit 3 Millionen Deutschen gesagt, dass sie eben doch nur Staatsbürger zweiter Klasse sind. Einer dieser Deutschen, für die offenbar andere Regeln gelten, bin ich …

Sie sind deutsch-schweizerischer Doppelbürger.

Ja, und Merz’ Worte haben mich getroffen.

Warum? Sie haben ja wohl nicht vor, straffällig zu werden.

Es geht mir um die Grundprinzipien des Rechtsstaates, die nun geschleift werden: Ich bin zwar Deutscher geworden, aber offenbar nur, solange ich mich benehme, wie es der Herr Merz richtig findet. Dabei bin ich mir meiner Privilegien bewusst, man würde mich nach Zürich oder Bern ausweisen und nicht nach Kabul oder Aleppo.

Einige feiern, dass man jetzt «endlich» wieder alles sagen darf. Der US-Milliardär Peter Thiel, mit dem Sie sich im Roman «Kraft» beschäftigt haben, hat in einem Artikel in der «Financial Times» die Wiederwahl Trumps mit dem Ausbruch aus einem Gefängnis der unterdrückten Meinungen verglichen, das von Medienunternehmen, Bürokraten, Universitäten und regierungsfinanzierten NGOs gebaut worden sei.

Die NGOs unterdrücken die Meinungen, ernsthaft? Die Zensurabteilung von Ärzte ohne Grenzen? Amnesty International füllt die Gefängnisse mit Abweichlern? Überhaupt: welche Gefängnisse? Als ob es massenhaft Menschen gäbe, die in den USA oder EU-Staaten im Gefängnis sitzen, weil sie die falsche Meinung vertreten haben. Vielleicht ein paar, die wegen Volksverhetzung oder Holocaustleugnung einsitzen. Geht es darum, dass man auch das sagen darf? Es sind doch die Rechten, die, zum Beispiel im schönen Bayern, die gendergerechte Sprache in Schulen und auf Ämtern verboten haben und in den USA Hunderte von Büchern in den Schulbibliotheken verbieten. Es geht doch offensichtlich gar nicht darum, dass man bestimmte Dinge nicht sagen darf.

Nicht?

Nein, Rechten geht es darum, dass sie keinen Widerspruch wollen. Man will sich rassistisch äussern dürfen, ohne dafür als Rassist bezeichnet zu werden. Man will sich sexistisch äussern und verhalten, ohne dafür gescholten zu werden. Aber vor allem wollen Tech-Milliardäre wie Peter Thiel, Elon Musk oder Mark Zuckerberg obszöne Mengen an Geld scheffeln. Ich weiss sowieso nicht, weshalb man Thiel für einen interessanten Denker hält. Er hat die Verlogenheit auf die Spitze getrieben, gibt den libertären Freidenker, der den Staat am liebsten in der Badewanne ertränken möchte, verdient aber als Gründer und wichtigster Anteilseigner des Softwareunternehmens Palantir sein Geld mit Überwachungs- und Polizeisoftware – und lebt hauptsächlich von Staatsaufträgen.

Porträt von Jonas Lüscher vor blauem Hintergrund, mit verschränkten Armen, beleuchtet von Fotolampen, erstellt am 14. Dezember 2023.

Die woke Linke hat doch unbestreitbar einen grossen Einfluss auf die Meinungsbildung und das, was gesagt werden kann.

Was heisst «gesagt werden kann»? Ohne dass man scharfen Widerspruch erntet? Ich bestreite nicht, dass es auf linker Seite Kräfte gibt, die seltsame Dogmen vertreten und nur einen sehr engen Meinungskorridor gelten lassen. Das ist auch nicht unproblematisch. Aber wird deren Einfluss und vor allem deren Zahl nicht gewaltig überschätzt?

Aber es ist doch unbestreitbar eine laute Gruppe.

Die sogenannte woke Linke hat vielleicht an bestimmten Universitätsinstituten das Sagen und vielleicht noch bei der grünen Jugend Neukölln und in der Programmkommission einiger autonomer Kultureinrichtungen. Wie viele Mitglieder des Nationalrates oder des Ständerates – oder des deutschen Bundestages – würden Sie der «woken Linken» zurechnen? Hat sie denn etwa schon den Bundesrat oder die deutschen Koalitionspartner unterwandert oder sitzt in den Chefetagen der Schweizer Banken und der Pharmaindustrie? Ein skeptischer Blick auf einen Teil der Linken ist sicher angebracht. Nicht nur rechts, auch links kann etwas ins Rutschen kommen. Aber es ist eben auch offensichtlich, dass die Wokeness ein Popanz der Rechten ist. Einer, der aber gut funktioniert und den Diskurs beherrscht.

«Trump und die anderen Rechten wollen alles kaputtmachen.»

Wenn Sie sagen, die Dominanz der woken Linken sei nur ein Phantasma der Rechten, was müsste denn die Linke tun, um aus diesem Diskurs rauszukommen?

Die Ungerechtigkeit und Ungleichheit ist einfach zu gross und die Angebote der linken Parteien zu klein. Deutschland ist ein Niedriglohnland. Ein Viertel der Werktätigen verdient weniger als 14 Euro die Stunde. Wenn Sie den Mindestlohn von aktuell 12,82 Euro verdienen, haben sie bei 40 Wochenarbeitsstunden am Ende des Monats etwa 2000 Euro brutto, das sind netto so um die 1400. Davon können sie in den meisten deutschen Städten nicht leben, geschweige denn eine Familie ernähren.

Die deutschen Sozialdemokraten, bei denen Sie Mitglied sind, stellen mit Olaf Scholz aktuell noch den Kanzler. Sie hätten es also in der Hand gehabt, daran etwas zu ändern.

Wenn die Sozialdemokraten versprechen, den Mindestlohn auf 14 Euro anzuheben, ist das bestimmt besser als das, was die anderen Parteien anbieten. Könnte die AfD ihr Wirtschaftsprogramm durchsetzen, das hat jüngst eine Studie gezeigt, hätten Geringverdiener noch weniger und die Reichen noch mehr.

Weshalb wählen die Leute trotzdem AfD?

Weil es eben am Ende für das Lebensgefühl einigermassen wurscht ist, ob man 12,82 Euro oder 14 Euro die Stunde verdient. Das Leben bleibt so oder so ein prekäres, man krepelt rum, schuftet sich den Buckel krumm, aber etwas Leichtigkeit oder Sicherheit und Unbeschwertheit kommt dennoch nicht auf. Dann doch lieber gleich die AfD wählen, da hab ich am Ende zwar auch nicht mehr, aber die – wie auch Trump und andere Rechte – wollen wenigstens alles kaputtmachen, alles erschüttern, und dann sind wir wieder Teil von etwas Grossem, Erhabenen, und es wird, obschon alles kaputt ist, wieder so schön, wie es niemals war. Das Einzige, was gegen dieses fatale Versprechen hilft, ist es, endlich wieder zuzugeben, dass Klassenkampf herrscht, und diesen Kampf aufzunehmen. Dann bedeuten nämlich vielleicht auch die 14 Euro wieder etwas, weil sie zumindest einen Schritt in die richtige Richtung sind und man ja zusammen, in Solidarität jetzt diesen Weg geht.

Viele wählen ja auch rechtspopulistische Parteien, weil sie sich Sorgen wegen Migration machen oder Angst vor psychisch kranken oder islamistischen Attentätern haben, die als Asylsuchende nach Westeuropa gekommen sind. Machen Sie es sich nicht zu einfach, wenn Sie aus Ihrer privilegierten Position als Intellektueller die Anhänger von Trump oder der AfD als leicht verführbare Wähler, also letztlich als Dummköpfe bezeichnen, die nach Sündenböcken suchen?

Ich könnte jetzt versuchen, ganz rational zu argumentieren. Zum Beispiel darauf hinweisen, dass die Gefahr, Opfer eines Anschlages zu werden, verschwindend gering ist. Oder dass die AfD die Migrationsfrage auch nicht lösen wird, zumal sie ja auch den Klimawandel leugnet; und was uns in den nächsten Jahrzehnten an Klimafluchtbewegungen erwartet, wird die gegenwärtige Lage in den Schatten stellen. Aber darum geht es eben vermutlich nicht.

Ich halte die Wähler, anders als Sie mir gerade unterstellen, ja eben auch nicht für Dummköpfe. Ich habe ja die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass wir sie wieder von der Idee der Solidarität und Geschwisterlichkeit und der Notwendigkeit eines Kampfes für mehr Gerechtigkeit überzeugen können. Natürlich weiss ich, dass das linke Angebot eine Zumutung ist im Vergleich zu demjenigen der Rechtspopulisten, das dir ja sagt, dass du deine Ressentiments pflegen darfst, dass du nichts an dir ändern musst, dass du nichts lernen und auf niemanden Rücksicht nehmen musst.

Jonas Lüscher sitzt nachdenklich an einem Tisch mit einem Espresso und einem Glas Wasser.

Eine Umfrage hat ergeben, dass Trump eigentlich nur in Westeuropa auf starke Ablehnung stösst. Auf anderen Kontinenten gibt es teils vehementen Zuspruch, etwa in Indien, wo 80 Prozent sagen, sie fänden Trumps Wahl eine gute Sache. Ist es nicht eine paternalistische Haltung von Westeuropäern, den anderen ihren Zuspruch für Trump vorzuwerfen?

Nein, das glaube ich tatsächlich nicht. Ich glaube, dass es auch in Indien und dem Rest des Universums, inklusive dem Schweizer Bundesrat, richtig ist, einen lügenden, betrügenden Rassisten, Frauenfeind und antidemokratischen Imperialisten abzulehnen. Zudem gilt es, zwei Dinge zu beachten. Zum einen bin ich mir nicht sicher, ob das Bild, das die Medien in einigen Ländern von Trump zeichnen, nicht doch ein sehr unvollständiges ist. Dass wir es also möglicherweise zum Teil mit einem Informationsproblem zu tun haben. Zum anderen gilt für die Menschen der wirtschaftlich abgehängten Länder erst recht, was ich für Deutschland geschildert habe. Die UNO verspricht, bis 2030 soll kein Mensch mehr in absoluter Armut leben, das heisst weniger als 2,15 Dollar am Tag zu haben – und nicht einmal das scheint der Weltgemeinschaft zu gelingen. Da liegt es ja leider nahe, dass man jemanden gut findet, der die ganzen internationalen Organisationen verachtet – nur verachtet Trump leider die Armen vermutlich noch mehr als die WHO.

Trump ist nicht das erste Mal im Amt, und Rechtspopulisten sind auch in anderen Ländern an der Macht. Bisher haben die liberalen Institutionen grösstenteils standgehalten.

Das ist die einzige Hoffnung, die ich zurzeit habe: dass die Institutionen in den USA stabil sind und ein Bollwerk gegen Trumps Angriff bilden. Das zeigt aber, wie weit wir schon gekommen sind, wenn der letzte Hoffnungsschimmer amerikanische Beamte, Militärs und Justizangestellte sind. Das sind ja teils alte und auch sehr starre Institutionen, und ich kann mir vorstellen, dass beim FBI einer wie Kash Patel …

… Trumps Wahl für den FBI-Direktor, ein Hardliner, der in einem Buch Verschwörungstheorien über den «Deep State» verbreitete und Tabletten bewarb, mit denen die Coronaimpfung umgekehrt werden soll …

… dass sie den beim FBI in ein schönes Eckbüro setzen, ihn gewissenhaft mit Herr Direktor ansprechen und regelmässig eine Tasse Kaffee hinstellen, aber eigentlich keiner wirklich mit ihm reden wird und man das Tagesgeschäft so weiterführt, wie man es schon immer gemacht hat.

Das klingt eigentlich nach dem perfekten Plot für einen satirischen Roman.

Ja, Trumps Amerika hat viel satirisches Potenzial, aber mir ist das Lachen vergangen.

«Auf die Gefahr hin, dass ich mich verirre, musste ich mich ins Dickicht begeben.»

Mit Ihren früheren Büchern positionierten Sie sich innert wenigen Jahren als einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren. Für Ihren neuen Roman, der nächste Woche erscheint, haben Sie acht Jahre gebraucht.

Ja, das ist eine lange Zeit. Begonnen hatte ich damit noch vor der Pandemie. Damals hatte ich ein ganz anderes Buch geplant, eines über die Folgen von künstlicher Intelligenz: Ich sah mich von der Vorstellung herausgefordert, was geschieht, wenn die KI im Moment der Singularität die menschliche Intelligenz überschreitet.

Das ist der Moment, in dem die Computer sich selbst schlauer machen können als ihre menschlichen Erfinder.

Genau, im Moment der Singularität wird aus der biologischen Evolution eine technologische. Anders als die biologische – jene von Tieren, Menschen und Pflanzen – verläuft die technologische Evolution nicht langsam und stetig, sondern nach dem Moore’schen Gesetz. Es kommt zu einer Explosion von künstlicher Intelligenz. Wir Menschen wären als biologische Wesen vollständig abgehängt. Und die Theoretiker der Singularität im Silicon Valley behaupten, dass sich ab dem Moment der Singularität kein Mensch mehr vorstellen kann, was passiert. Das hat mich als Schriftsteller natürlich gereizt, ich kann mir doch alles vorstellen! Aber dann hab ich schnell begriffen, dass das ein alberner Gedanke war.

Warum?

Weil ich damit voll in die Falle getappt wäre. Das ist doch genau die Tech-bro-Haltung. Ich kann alles. Nichts ist unmöglich, vor allem für mich nicht. Klingt doch nach Elon Musk. Aber so ist es eben nicht. Gewisse Dinge kann ich nicht. Auf gewisse Fragen gibt es keine guten Antworten. Einiges kann ich mir tatsächlich nicht vorstellen. Und dann kam dazu, dass mich das KI-Thema, je mehr ich darüber nachgedacht und recherchiert habe, zu langweilen begonnen hat.

Die KI wird uns aber in den nächsten Jahren zweifellos beschäftigen.

Natürlich ist der Fortschritt, den zum Beispiel Chat-GPT von der ersten zur aktuellen Version gemacht hat, auf eine gewisse Art und Weise beeindruckend. Gleichzeitig bin ich dann aber auch, angesichts der vielen Fehler und der mediokren Ergebnisse, maximal unbeeindruckt. Und der ganze kapitalistische Lärm um die KI, es geht ja im Moment vor allem darum, die Aktienkurse dieser Unternehmen hochzuhalten oder Risikokapitalgeber zu finden, trübt die Sicht auf das Thema sehr.

Ihr neues Buch beschäftigt sich auch mit den Folgen von Technologien. Aber ganz anders. Darin erheben sich im 19. Jahrhundert Weber gegen die Maschinen, die sie zu ersetzen drohen. Ein junger algerischer Soldat beschliesst im deutschen Giftgaskrieg des Ersten Weltkriegs, einer müsse damit aufhören, und läuft weg. Es geht darin auch um die Wochen, die Sie mit einer schweren Coronaerkrankung im Koma lagen.

Ein Buch über Mensch-Technik-Beziehungen zu schreiben, wenn man, so wie ich, sein Leben der Hochtechnologie zu verdanken hat und mehrere Wochen als eine Art Mensch-Maschinen-Wesen gelebt hat und diesen Fakt aber ausspart, das wäre intellektuell unredlich und literarisch blöd gewesen. Deswegen musste ich von meinem Hochsitz, auf dem ich früher wie ein Förster gesessen bin und das Treiben im Unterholz aus sicherer Distanz beobachtet und in meinen Romanen beschrieben habe, heruntersteigen und auch auf die Gefahr hin, dass ich mich verirre, ins Dickicht begeben. Und das dichteste und dunkelste Unterholz ist ja immer die eigene Psyche.

«Wir können zeigen, dass man ein Leben in Freundlichkeit führen kann.»

Im Schlusskapitel Ihres Romans beschreiben Sie Träume, die Sie während Ihrer Zeit im Koma hatten. Das sind faszinierende Seiten.

Es ist erstaunlich, zu welchem Wahnsinn der Geist fähig ist. Diese Träume, es ist eigentlich ein Delirium, sind typisch für die lange Phase des Aufwachens. Die kann sich über Tage oder Wochen hinziehen, und die Träume sind von einer ganz und gar realen Qualität. Das ist ziemlich faszinierend, aber nicht minder traumatisierend.

Können Sie mit anderen Koma-Patienten besser über diese Träume sprechen?

Ja, schon. Die geteilte Erfahrung hilft natürlich. Und wir haben ja ein Erkennungszeichen (Jonas Lüscher zieht seinen Pulli ein Stück runter und weist auf die Narbe an seinem Hals, die das Einführen des Beatmungsschlauchs hinterlassen hat). Ich habe eine Lesereise im Ausland gemacht, auf der mich der Kulturattaché einer Schweizer Botschaft begleitet hat, der drei Wochen mit einer schweren Coronaerkrankung im Koma lag. Wir sassen jeden Abend in den Hotelbars, bis wir rausgeschmissen wurden, und haben uns gegenseitig unsere Albträume erzählt. Das war wichtig, kathartisch und befreiend.

Haben Sie etwas, was all jenen in der aktuellen Situation helfen könnte, die angesichts Trump zum Pessimismus neigen?

Gute Beziehungen führen und Freundschaften pflegen. Auch wenn ich den Rückzug ins Private nicht begrüsse, bin ich doch davon überzeugt, dass wir in unserem näheren Umfeld sehr viel tun können, wenn wir das Spiel der neuen Härte, die nun gerade ausgerufen wird, verweigern – und das Gegenteil zu leben versuchen.

Sie umarmen Trump-Fans?

Nein, natürlich nicht. Ich bin sehr wütend auf sie. Aber wenn wir Kinder erziehen und unterrichten oder Politik im Quartier oder in der Gemeinde machen, dann können wir zeigen, dass man ein Leben in Freundlichkeit führen kann. Ich bin auch kein absoluter Pessimist. Natürlich sehe ich, dass sich in den letzten hundertfünfzig bis zweihundert Jahren vieles zum Besseren verändert hat. Aber wir müssen uns einfach bewusst sein, wie fragil das alles ist. Es lohnt sich, für den Erhalt des Erreichten zu kämpfen. Es sollen ja noch ein paar Generationen nach uns kommen, die es vielleicht sogar besser haben als wir.

Buchcover von ’Verzauberte Vorbestimmung’ von Jonas Lüscher mit gelbem Hintergrund, Frau in traditioneller Kleidung und ’SPIEGEL Bestseller-Autor’-Emblem.