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Folgen des Brexit
Johnson schwört die Briten auf harte Zeiten ein

Bisher hatte der Brexit noch kaum Konsequenzen: Demonstranten feiern den offiziellen EU-Austritt am 31. Januar 2020.
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Nur die wenigsten Briten sind auf das Ende der Zugehörigkeit ihres Landes zu Binnenmarkt und Zollunion der EU Ende Jahr vorbereitet. Deshalb hat Boris Johnsons Regierung nun zum «Neustart des Vereinigten Königreichs» eine massive Kampagne unter dem Motto «Let’s get going» (Los gehts) gestartet.

Mit Zeitungsanzeigen, Radio- und Fernsehspots, Online-Appellen und SMS-Botschaften werden Privatleute und Firmen damit vertraut gemacht, dass sie sich auf ein Leben jenseits vertrauter Regelungen einstellen müssen. Unter anderem machen die Anzeigen klar, dass die europäischen Versicherungskarten vom 1. Januar an für Briten nicht mehr gelten werden und man sich stattdessen vor Reisen zum Kontinent gegen Unfälle und Krankheit extra versichern muss – was zumal zu Corona-Zeiten erhebliche Summen kosten kann.

Telefonieren wird teuer

Urlauber müssen künftig ausserdem sicherstellen, dass ihre Reisepässe ein halbes Jahr Vorlaufzeit haben und sie beim Mitbringen von Haustieren vier Monate vor der Abreise über gültige Impfpapiere verfügen. Möglicherweise werden Briten bei der Fahrt «nach Europa» von Januar an grüne Versicherungskarten für ihre Fahrzeuge und internationale Führerscheine benötigen. Und die Gebühren
fürs Telefonieren mit britischen Handys auf dem Kontinent steigen mit Sicherheit kräftig an.

Noch unmittelbarere Folgen haben die neuen Vorschriften für Lastwagenfahrer, die sich fürs neue Zollverfahren anmelden und etliche bürokratische Hürden überwinden müssen. Während London im ersten Halbjahr 2021 noch auf Warenkontrollen und Verzollung verzichten will, weil es mehr Zeit zum Aufbau seiner Zollanlagen braucht, treten diese Massnahmen auf der Gegenseite unmittelbar zum 1. Januar in Kraft.

Geschäftsleute hoffen, dass noch irgendeine Vereinbarung mit der EU zustande kommt.

Laut einer Umfrage des Verbandes britischer Geschäftsführer sind drei Viertel aller Betriebe im Lande gänzlich unvorbereitet auf die kommenden Änderungen. Die meisten Geschäftsführer hoffen noch immer inständig, dass irgendeine Handelsvereinbarung mit der EU zustande kommt vor Ende des Jahres. Angesichts der bislang ergebnislosen Gespräche und der gezielten Vorbereitungen Londons auf einen harten Abgang schwindet die Zuversicht gegenwärtig aber rasch.

Unterdessen hat der heimliche Aufkauf eines 11-Hektaren-Geländes beim Städtchen Ashford in Kent durch die Regierung für Unruhe gesorgt. Auf dem Gelände sollen 10’000 Lastwagen, die auf ihre Zollabfertigung warten, Platz haben. Auf den Strassen der Gegend – 30 Kilometer vor Dover – werden immense Staus erwartet. Insgesamt will die Regierung über 820 Millionen Franken aufwenden für neue Zollanlagen, entsprechende Computersysteme und 500 weitere Grenzbeamte im Königreich.

Die Hoffnung auf einen Deal schwindet: EU-Chefverhandler Michel Barnier war Anfang Juli zu Gesprächen in London – ohne Ergebnis.

Innenministerin Priti Patel bestätigte am Montag, dass es für Studenten und für dringend benötigte Arbeitskräfte aus der EU Sonderregelungen bei der Visa-Zuteilung geben soll. Generell werden aber «unqualifizierte» Europäer, auf die kein Job mit einem Jahreslohn von mindestens 25’600 Pfund (30’150 Franken) wartet, künftig keinen Einlass mehr in Grossbritannien finden. Zuwanderungswillige EU-Bürger werden vom 1. Januar an behandelt wie der Rest der Welt.

Nach dem Abgang aus der EU stehe es «uns frei, das volle Potenzial unseres Landes zu entfesseln», hat Patel mehrfach stolz erklärt. Mithilfe der jetzt angekurbelten Info-Kampagne sollen die Briten in die Lage versetzt werden, sofort «alles im Griff zu haben», wenn sie nächstes Jahr zu einer «vollständig unabhängigen» Nation würden, fügte der für die Brexit-Umsetzung zuständige Minister Michael Gove hinzu.

Kein Vertrauen in die Regierung

Nicht nur wegen der superteuren Abschottung raufen sich britische Ökonomen die Haare. Die langfristigen wirtschaftlichen Kosten eines ungeregelten Brexit, auf den London jetzt hinzusteuern scheint, dürften gewaltig sein. Dabei finden sich die Briten schon heute, wegen der Pandemie, in einer prekären Lage. Die OECD sagt Johnsons Landsleuten die schlimmste Rezession unter den Industriestaaten voraus.

Und die Pandemie heizt die Krise weiter an. Nach ein paar Wochen sinkender Ansteckungs- und Todeszahlen befürchten viele Briten, dass die Kurve demnächst wieder steil nach oben geht. Viel Vertrauen hat die Bevölkerung in Sachen Covid nicht in ihre Regierung. Wie man inzwischen weiss, ignorierte Boris Johnson
zu Beginn der Krise leichtfertig die Notwendigkeit eines raschen Lockdown. Schutzkleidung für Klinikmitarbeiter wurde zu spät besorgt. Altersheime blieben ungesichert. Testmassnahmen waren zeitweise ganz eingestellt. Geschönte Statistiken lassen wenig von den wirklichen Verhältnissen erkennen. Kritische Forscher gehen davon aus, dass im Vereinigten Königreich bereits mehr als 60’000 Menschen der Seuche zum Opfer gefallen sind. Dreimal so viele könnten es bis zum nächsten Frühling sein.

Die Regierung könnte den Brexit-Schaden hinter der Corona-Katastrophe verstecken.

Dass sich die Insel in dieser Situation durch totale Abkoppelung von der EU zusätzliche Probleme schaffen will, finden Regierungskritiker unbegreiflich. Dass die Regierung Ende Juni die Frist für eine mögliche Verlängerung der Übergangszeit beim Brexit bereits verstreichen liess, hielten auch viele Brexit-Befürworter nicht für sonderlich klug. Mittlerweile wird gerätselt, ob Premier Johnson gezielt Vorbereitungen für ein No-Deal-Fiasko trifft, weil er glaubt, der EU damit im Herbst noch einen späten Kompromiss abringen zu können.

Oder ob er einfach gegenüber den Brexit-Hardlinern kapituliert hat und in blindem Vertrauen auf amerikanischen Beistand und erneute britische «Grösse» die radikale Abkehr von den bisherigen Haupt-Handelspartnern riskieren und Jahr für Jahr weitere Milliardenverluste in Kauf nehmen will. Nicht von der Hand zu weisen ist jedenfalls der Verdacht, dass man in Downing Street kalkuliert, der kommende Brexit-Schaden lasse sich gut hinter den grösseren Verlustposten der Corona-Katastrophe verstecken.