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Gegenoffensive der Ukraine
Aufregung in Russland: Auf einmal heisst es «Krieg»

Friedhof der Panzer? Die Russen haben bei ihrem Rückzug viele Waffen zurückgelassen.   
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Es hat mehr als ein halbes Jahr gedauert, aber mittlerweile fühlt sich auch in Moskau so manch einer im Krieg. Seit dem Ende Februar von Kremlchef Wladimir Putin angeordneten Einmarsch ins Nachbarland Ukraine ist beharrlich nur von einer «militärischen Spezial-Operation» die Rede gewesen.

Dabei lief stets alles «nach Plan». Und so gab sich dann auch das russische Verteidigungsministerium am vergangenen Wochenende alle Mühe, den Rückzug der eigenen Truppen aus dem ostukrainischen Gebiet Charkiw als strategische «Umgruppierung» darzustellen. Nur: So richtig funktionierte die Sache mit dem Besänftigen dieses Mal nicht.

Von einem «harten Tag» war in Russlands Staatsfernsehen in einer ersten Reaktion die Rede. Der eigentlich Putin-treue Chef der Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, schimpfte nach der erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive auf «Fehler» der Führung in Moskau.

Nationalistische Militärblogger und Kriegskorrespondenten sprachen von einem «Desaster» und «enormen Verlusten» – und erwarten Konsequenzen. Auch in der ersten Sitzung des Parlaments nach der Sommerpause war Mitte der Woche die Frage nach dem weiteren Vorgehen in der Ukraine Thema.

«Eigentlich müssten sie sich freiwillig für die Front melden»

«Meiner Ansicht nach hat sich die Spezial-Operation in der Ukraine und im Donbass in den vergangenen zwei Monaten in einen Krieg verwandelt», erklärte etwa der Parteichef der in zentralen Fragen als kremlnah geltenden Kommunisten, Gennadi Sjuganow – und schaffte es damit am Mittwoch prompt auf die Titelseite der wichtigen Tageszeitung «Nesawissimaja Gaseta». «Diesen Krieg haben uns die Amerikaner, das vereinigte Europa und die Nato erklärt.»

Die Front hat sich verschoben: Ein ukrainischer Soldat nahe der befreiten Stadt Isjum. 

Sjuganows Parteikollege Michail Matwejew sorgte für Aufsehen mit den Worten, führende russische Politiker müssten sich nach einem solchen Debakel «eigentlich selbst erschiessen oder sich zumindest freiwillig für die Front melden». Der Duma-Abgeordnete Michail Scheremet, selbst Mitglied der Kremlpartei Geeintes Russland, wiederum sprach sich für eine Generalmobilmachung der Streitkräfte aus, ohne die Moskaus Ziele in der Ukraine nicht mehr erreicht werden könnten.

Peskow: «Der Grat ist sehr, sehr schmal»

Alexander Chodakowski, ein Kommandeur der von Moskau gelenkten Separatisten, argumentierte dagegen, eine bei der Bevölkerung so unpopuläre Massnahme wie die Mobilisierung von Reservisten würde Russland so schwer erschüttern, «dass es dem nicht standhalten wird». Es brauche nicht in erster Linie mehr Kämpfer, sondern eine bessere Führung und Organisation des Einsatzes, schrieb der 49-Jährige. Er forderte darüber hinaus eine stärkere Ausrichtung der russischen Wirtschaft auf den Krieg. Wieder andere Beobachter pochten auf den Rücktritt von Verteidigungsminister Sergej Schoigu.

Angesichts des grossen Unmuts schien sich sogar der Kreml gezwungen zu sehen, die grössten Scharfmacher in ihre Schranken zu weisen. Selbstverständlich gehörten kritische Standpunkte zum Meinungspluralismus, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. «Aber der Grat ist sehr, sehr schmal.» Andersdenkende müssten sich «an jene Gesetze halten», die Menschen bestrafen, welche die Armee «diskreditieren». «Darüber hinaus sei von einer militärischen Mobilmachung keine Rede, versicherte er – «im Moment».

Das «Z» hat seinen Schrecken verloren: Ein ukrainischer Soldat sitzt gelangweilt auf einem russischen Panzer. 

Was Präsident Putin denn von den jüngsten Entwicklungen halte, wollten die Journalisten von Peskow weiter wissen. Der Kremlchef selbst nämlich schweigt bislang zur «Umgruppierung» seiner Truppen in der Ostukraine. An dem Tag, an dem die russischen Soldaten überstürzt aus Charkiw abrückten, weihte Putin in Moskau ein besonders riesiges Riesenrad ein, das zur Belustigung seiner politischen Gegner nur einen Tag später wieder kaputt ging.

Wie also wird Russlands Führung nun weiter vorgehen? Der Kremlsprecher gab sich schmallippig: Putin werde selbstverständlich über alle militärischen Entwicklungen informiert, sagte Peskow lediglich. Und so brodelt die Gerüchteküche weiter.

Wächst der Wunsch nach Verhandlungen?

Das nun mit Nachdruck vorgetragene Mantra «Es gibt keinen Krieg mit der Ukraine, sondern einen Krieg mit dem kollektiven Westen» erlaube dem Kreml einerseits, die Schmach der Niederlage abzufedern, meint der Politologe Abbas Galljamow.

Zugleich macht er deutlich, dass es dadurch in der breiten Bevölkerung eine ganz anders gelagerte Reaktion als in den kremlnahen Kreisen geben könnte: dass nämlich der Wunsch nach Friedensverhandlungen wachsen könnte – und der Widerstand gegen eine Mobilmachung. «Schliesslich haben sich die Russen auf eine kurzfristige und siegreiche Spezial-Operation eingestellt und nicht auf ein langes und blutiges Gemetzel», schreibt der Wissenschaftler.

Noch habe der Präsident wenig zu befürchten, sagt derweil Tatjana Stanowaja, Gründerin des Analysezentrums R.Politik. Aber wenn sich die Lage an der Front weiter verschlechtere, «mit mehr Verlusten, mehr Niederlagen, dann könnten die Beziehungen zwischen den Patrioten und den Behörden ernsthaft auf die Probe gestellt werden».

Bei einer solchen Entwicklung könnte es für die Behörden schwieriger werden, gegen Kritiker vorzugehen, meint die Politologin. Während die Opposition zwar leicht «als ideologischer Feind und Sprachrohr des Westens» diskreditiert werden könne, könnte hingegen der Protest der Patrioten in Russland eher «als legitim angesehen» werden.

Während viele in Russland gespannt auf eine Entscheidung Putins warten, versucht eine kleine Gruppe von kriegskritischen Lokalpolitikern, den Kremlchef selbst loszuwerden. In einem recht höflich formulierten Schreiben bitten sie Putin um seinen Rücktritt – zumindest versuchen kann man es ja mal.

«Lieber Wladimir Wladimirowitsch», heisst es in dem offenen Brief der Abgeordneten des Moskauer Lomonossow-Bezirks: «Sie hatten in der ersten und teilweise in der zweiten Amtszeit gute Reformen, aber danach ging irgendwie alles schief.»

sda/afp/nlu