Stimmvolk sagt Ja zur 13. RenteJubel, Tränen und das «Ende einer Ära» – jetzt glauben Linke an den nächsten Coup
Erstmals stimmt das Volk einer linken Volksinitiative zum Ausbau des Sozialstaats zu. Sogar Gegner sprechen von einer Zeitenwende. Im Juni steht die nächste wegweisende Abstimmung an.
Pierre-Yves Maillard kommt auf den letzten Drücker. Kurz vor 12 Uhr trifft der Präsident des Gewerkschaftsbunds im Hotel Bern ein, wo die Befürworter der 13. AHV-Rente gebannt auf die ersten Resultate warten. Doch Maillard weiss bereits: Er hat gewonnen.
Seine Siegesgewissheit schöpft Maillard aus dem Aargau. Schon vor 11 Uhr haben dort einige Kleingemeinden – obwohl das eigentlich verboten ist – ihre Abstimmungsresultate veröffentlicht. Beispiel Oberkulm: Das 2400-Seelen-Dorf im Wynental ist eine der konservativsten Ecken der Schweiz, über 50 Prozent wählen hier SVP, und jetzt sagt Oberkulm mit fast 60 Prozent Ja zu einer linken Volksinitiative. Oberkulm ist das Fanal für die 13. AHV-Rente.
Trotzdem gibt sich Maillard vorsichtig. «Sollen wir schon die Arme hochreissen?», fragt er einen Gewerkschaftsfunktionär, als er sich vor einem TV-Bildschirm positioniert, auf dem um 12 Uhr die erste Trendrechnung erscheinen soll. Neben Maillard hat sich die ganze linke Prominenz für die Fotografen aufgereiht, alle wollen auf den Pressebildern sein mit der Jubelpose, SP-Co-Fraktionschefin Samira Marti faltet die Hände, wie zu einem Gebet.
Dann erscheint am Bildschirm die erste Trendrechnung: 54 Prozent für die 13. AHV-Rente! Pierre-Yves Maillard reisst seine Arme nicht hoch, sie werden ihm hochgerissen wie von einer unsichtbaren Kraft. Ein paar Sekunden lang scheint er mit den Tränen zu kämpfen, dann hat er sich wieder gefasst. Er fällt Unia-Chefin Vania Alleva um den Hals, er fällt SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer um den Hals.
«Ende einer Ära»
Damit tritt an diesem 3. März 2024 das ein, was der Politgeograf Michael Hermann in der «SonntagsZeitung» als «Ende einer Ära» bezeichnet hatte, als «Ende des liberalen Sonderwegs der Schweiz». Was Hermann mit diesen Superlativen meint: Nie zuvor hat das Stimmvolk einer solchen Volksinitiative zugestimmt. Nie zuvor hat der Gewerkschaftsbund, immerhin schon 1881 gegründet, eine eigene Volksinitiative durchgebracht.
Zwar hat das Volk schon früher Volksinitiativen von links angenommen, aber fast ausschliesslich im Umweltschutzbereich. Noch nie fand eine Volksinitiative für den Ausbau des Sozialstaats Zustimmung. Bereits ab übernächstem Jahr, 2026, wird die 13. Rente an 2,5 Millionen Rentnerinnen und Rentner ausbezahlt.
Bis zum Abend steigt der Ja-Stimmen-Anteil noch an – auf 58,2 Prozent. 15 von 23 Ständen nehmen die Initiative an, die Ja-Anteile reichen von 31,5 Prozent in Appenzell Innerrhoden bis zu 82,5 Prozent im Jura. Die Hürde des Ständemehrs nimmt das linke Volksbegehren spielend.
Der Erfinder der 13. AHV
«Wir erleben einen historischen Moment», sagt Maillard, als er sich an seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter richtet. Doch dieser Moment sei nicht sein Verdienst. «Die wahren Väter» dieses Sieges seien sein Amtsvorgänger Paul Rechsteiner und Daniel Lampart, der Chefökonom des Gewerkschaftsbundes.
Paul Rechsteiner, mit 71 selber im AHV-Alter, steht etwas abseits an einem Stehtischchen. Er zeigt auf seinem Handy das Foto eines Interviews, das er dem «Blick» im Jahr 2002 gegeben hatte. Die über zwanzig Jahre alte Schlagzeile lautet: «Die 13. AHV-Rente muss her!» Dieses Interview ist die Geburtsstunde dieses Abstimmungssiegs.
Doch zunächst schien nicht einmal Rechsteiner an seine Idee zu glauben. Stattdessen versuchte es der Gewerkschaftsbund unter seiner Ägide zunächst mit der AHV-plus-Initiative. Diese wollte die Renten um 10 Prozent erhöhen. Dann schaffte Rechsteiner es, im Parlament einen Rentenzuschlag von 70 Franken in die grosse Altersreform 2020 einzubauen. Doch beide Vorlagen scheiterten vor dem Volk.
Erst dem allerletzten SGB-Kongress, den er 2018 als Präsident leitete, rang Rechsteiner den Grundsatzentscheid für eine Volksinitiative für eine 13. Rente ab. Selbst intern waren die Bedenken gross. «Wir drückten die Initiative gegen eine riesige Skepsis durch», erinnert sich Lampart.
Kaufkraft, Kaufkraft, Kaufkraft
«Viele unterschätzten damals noch massiv, wie sehr sich die Pensionskassenrenten verschlechtert hatten», erzählt Rechsteiner. Für ihn und Lampart war dies die Schlüsselargumentation: Die 13. AHV-Rente sollte die sinkenden Renten aus der zweiten Säule kompensieren. Was hingegen auch Rechsteiner nicht ahnen konnte: dass ihnen kurz vor der Abstimmung über die 13. AHV-Rente auch noch der grösste Teuerungsschub seit Jahrzehnten zu Hilfe kommen würde.
Die sinkende Kaufkraft habe zum Ja geführt, sagt SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer. «Das klare Ja zur 13. AHV zeigt, dass die Bevölkerung ernst genommen werden will in ihrem Bedürfnis nach einer Sicherung ihrer Kaufkraft.» Das habe die bürgerliche Mehrheit im Parlament schlicht nicht verstanden. Meyers Co-Präsident Cédric Wermuth ergänzt: «Die Annahme der 13. AHV zeigt, dass die wachsende soziale Ungleichheit und der Kaufkraftverlust nicht nur eine Behauptung und ein Kampagnenthema der Linken sind, sondern ein tatsächliches Malaise.»
Depression auf der Grossen Schanze
Während die linke Prominenz im Hotel Bern bei Rotwein und Bier ihren Sieg feiert, herrscht 800 Meter entfernt Katerstimmung. Nur drei bürgerliche Nationalratsmitglieder haben sich in das Restaurant Grosse Schanze verirrt, wo das Nein-Komitee sich versammeln sollte. Eines ist FDP-Nationalrätin Bettina Balmer. Sie spricht von einer «Zeitenwende». Dass das Volk eine Vorlage annehme, deren Finanzierung nicht geklärt sei, sei «eindrücklich», meint sie ernüchtert. Nie hätte sie sich vorstellen können, dass eine Mehrheit der Stimmenden «nicht mehr gesamtheitlich und nachhaltig für das Land denkt, sondern nur noch an die eigene Befindlichkeit». 75 Prozent der Rentner hätten eine 13. Rente nicht nötig – trotzdem bekämen nun alle diesen Zustupf.
Die Frage ist nun, was das für die Zukunft heisst. Bereits im Juni steht der nächste Sozialausbau auf dem Abstimmungskalender, eine SP-Initiative, welche die Prämienverbilligungen massiv ausbauen will: Niemand soll künftig mehr als 10 Prozent des verfügbaren Einkommens für die Krankenkasse zahlen. Auf bis zu fünf Milliarden Franken schätzt der Bundesrat die Kosten, ähnlich viel wie bei der 13. AHV. Für Samira Marti ist klar: Nach den Pensionierten seien «nun die jungen Familien dran, die besonders unter der Prämienlast leiden».
Wird es erneut für ein Ja reichen? Grünen-Präsident Balthasar Glättli erinnert daran, dass der Bundesrat die AHV-Abstimmung auf den März-Termin vorgezogen und die Prämieninitiative auf den Juni vertagt habe, weil er Letztere für gefährlicher gehalten habe. Nach der Annahme der AHV-Rente gebe es nun einen «doppelten Boost für die Prämienentlastungsinitiative», hofft Glättli.
Finanzierung weiter offen
Derweil bleibt offen, wie die 13. AHV-Rente finanziert werden soll. Als Sozialministerin Elisabeth Baume-Schneider kurz nach 17 Uhr vor die Medien tritt, sagt sie, sie werde dem Bundesrat dazu in den nächsten Wochen Vorschläge unterbreiten. Genaueres mag Baume-Schneider nicht sagen. Sicher ist derzeit nur: Die 13. AHV-Rente wird ab 2026 ausbezahlt, wie Baume-Schneider sagt. «Das Volk hat entschieden.»
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