Europas Energiepläne Ja zum Klima – aber für Erdgas gibts Milliarden
Die europäischen Länder wollen 2050 klimaneutral sein. Dennoch geben sie 70 Milliarden Euro für fossile Brennstoffe und neue Pipelines aus. Wie passt das zusammen?
Das neue Jahr begann gut für Aserbaidschan: Der autokratische Staat verfügt nun über eine direkte Verbindung nach Italien. Seit dem Jahreswechsel bringt die transadriatische Pipeline (TAP) Erdgas aus dem Kaspischen Meer über Griechenland bis nach Italien. Damit ist, ohne dass die Öffentlichkeit davon gross Notiz genommen hätte, Europas «südlicher Gaskorridor» komplett. 33 Milliarden US-Dollar hat die 3500 Kilometer lange Röhre Richtung Kaukasus gekostet, 10 Milliarden Kubikmeter Erdgas soll sie jährlich in die EU transportieren.
Es wird nicht die einzige neue Pipeline bleiben. Rund 65 Milliarden Euro sollen in den nächsten zehn Jahren in überregionale europäische Gasnetze fliessen, auch, aber längst nicht nur für die umstrittene Pipeline Nord Stream 2. Hinzu kommen Terminals für Flüssiggas für etwa 6 Milliarden Euro sowie unterirdische Speicheranlagen für mehr als zwei Milliarden Euro. So geht es aus aktuellen Planungen der europäischen Übertragungsnetzbetreiber hervor. Damit wird weiter in fossile Infrastruktur investiert – obwohl Europa doch eigentlich bis 2050 klimaneutral wirtschaften will, also möglichst ohne fossile Energieträger wie Erdgas. Zugleich werden viele Gasprojekte, darunter auch die transadriatische Pipeline, von der EU als «Projekt von gemeinsamem Interesse» (PCI) eingestuft und qualifizieren sich so für EU-Förderung. Wie passt das zusammen?
Erdgasverbrauch müsste sich bis 2030 halbieren
Für die Autoren einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW): praktisch überhaupt nicht. Um die EU-Klimaziele zu erreichen, müsste sich der Erdgasverbrauch bis 2030 halbieren, ab 2040 müsste Erdgas komplett aus dem Energiemix verschwinden, schreibt das Team um Karlo Hainsch. Dazu seien zwar Investitionen von rund drei Billionen Euro in erneuerbare Energien nötig, dem stünden aber allein zwei Billionen Euro Einsparungen bei Öl- und Erdgasimporten gegenüber. «Anstatt den Ausbau von Erdgaspipelines und Flüssiggasterminals (LNG) zu subventionieren, kann diese fossile Infrastruktur, für die im erneuerbaren System kein Bedarf mehr besteht, schrittweise zurückgebaut werden.»
In einer aktuellen Veröffentlichung warnen auch Wissenschaftler der «Scientists for Future», Erdgas sei «keine Brückentechnologie in eine fossilfreie Zukunft». Würden etwa Methan-Lecks bei Förderung und Transport einbezogen, könne Erdgas «unter bestimmten Bedingungen eine ähnlich schlechte Klimabilanz aufweisen wie Kohle».
«Es gibt einen riesigen Interessenskonflikt vom Anfang bis zum Ende.»
Überlegungen zum Klimaschutz spiegeln sich in den Planungen zum Gasnetz jedoch nur eingeschränkt wider. Basis dafür ist die Prognose des zukünftigen Erdgasbedarfs – und die stammt von der Industrie selbst, genauer gesagt vom Dachverband der europäischen Übertragungsnetzbetreiber Erdgas (Entsog). Zu dieser Prognose sind die Netzbetreiber durch eine EU-Verordnung gesetzlich verpflichtet.
Davon ausgehend planen sie die nötige Infrastruktur im Rahmen eines zehnjährigen Netzentwicklungsplans und schlagen Projekte für eine Förderung vor. «Da gibt es einen riesigen Interessenskonflikt vom Anfang bis zum Ende», sagt Pascoe Sabido von der Nichtregierungsorganisation Corporate Europe Observatory. Denn das Interesse der Gasnetzbetreiber bestehe massgeblich darin, die Infrastruktur zu erweitern. Daher werde der erwartete Erdgasbedarf auch regelmässig massiv überschätzt.
Wie hoch der Bedarf tatsächlich ausfällt, ist schwer zu beantworten. Schon 2015 rügte der Europäische Rechnungshof (ECA), dass die EU-Kommission sich zu stark auf die Schätzungen der Industrie verlasse und keine eigenen Prognosen erstelle. Die Analysefirma Trinomics hat 2018 im Auftrag der Generaldirektion Energie der EU-Kommission drei Szenarien durchgerechnet. In allen dreien würde der Erdgasverbrauch bis 2050 drastisch zurückgehen. Zwar würde ein grosser Teil des fossilen Erdgases durch Wasserstoff ersetzt, für den man die Pipelines umwidmen könnte. Da dieser aber auch lokal mit erneuerbaren Energien erzeugt wird, würde das durch die überregionalen Pipelines transportierte Gasvolumen dennoch sinken.
Vergangenes Jahr kam eine Auswertung im Auftrag der European Climate Foundation (ECF) zum Ergebnis, die bestehende Infrastruktur sei ausreichend für eine Vielzahl an künftigen Szenarien, «selbst bei extremen Fällen von Lieferausfällen». Auch die EU-Kommission verweist auf Anfrage auf eine Folgenabschätzung zum verschärften Klimaziel. Laut diesem wäre es für die bis 2030 geplante Treibhausgasreduktion um 55 Prozent gegenüber 1990 nötig, dass allein bei der Stromerzeugung der Erdgasverbrauch bis 2030 um ein Viertel sinkt.
«Es ist tendenziell so, dass die Netzbetreiber in ihren Zahlen etwas drüberliegen», sagt Jakob Wachsmuth vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe. Dies habe auch mit ihrem Versorgungsauftrag zu tun: «In dem Moment, wo sie den nicht erfüllen könnten, würden sie Probleme bekommen.» Wachsmuth hat zusammen mit Kollegen im Auftrag des Umweltbundesamtes den Bedarf in Deutschland abgeschätzt: Der energetische Gasbedarf dürfte auch hierzulande bis 2050 um mindestens 49 Prozent sinken, einschliesslich anderer Gase wie Wasserstoff. Zwar könne in den kommenden Jahren durch den Kohleausstieg zeitweise mehr Gas in der Stromerzeugung zum Einsatz kommen. Eins sei aber klar, so Wachsmuth: «Es kann jetzt nicht darum gehen, wie in der Vergangenheit immer stärker Kapazitäten zu schaffen.»
Es droht jahrzehntelange Abhängigkeit von Gasimporten
Blickt man auf die Karte der grössten geplanten Projekte in Europa, dominieren allerdings bislang solche Vorhaben. Darunter ist etwa die fünf Milliarden Euro teure Eastmed-Pipeline, die bis 2025 Zypern mit Griechenland verbinden könnte und von der EU zum strategisch wichtigen Projekt erhoben wurde. 20 Milliarden Kubikmeter Gas soll sie zum Festland pumpen, mehr als ein Fünftel des deutschen Bedarfs. Die Pipeline würde das gesamte östliche Mittelmeer für die Öl- und Gasproduktion öffnen. «Die Ausbeutung dieser riesigen Ressourcen würde uns dramatisch näher an den Klimazusammenbruch führen, Europa jahrzehntelang von Gasimporten abhängig machen und die Energiewende blockieren, die wir brauchen», kritisiert die Naturschutzorganisation Urgewald. An einigen EU-geförderten Projekten wie der transkaspischen Pipeline sind zudem autokratische Staaten wie Turkmenistan beteiligt.
Bei manchen Pipelines stellt sich schon sehr bald die Frage, ob sie wirklich gebraucht werden. Im April dürfte in Deutschland der zweite Strang von Eugal ans Netz gehen, um Erdgas aus Greifswald Richtung Tschechien zu transportieren. Doch die Pipeline Nord Stream 2, deren Erdgas Eugal an der Ostsee aufnehmen soll, liegt auf Eis, bedroht von US-Sanktionen. Sollte Nord Stream 2 scheitern, könnte auch die weiterführende Röhre mehr oder weniger obsolet werden. Zum anvisierten Neubau und Ausbau etlicher Flüssiggas-Terminals weisen die Klimaökonominnen Claudia Kemfert und Franziska Holz vom DIW darauf hin, dass die europäischen LNG-Terminals im vergangenen Jahrzehnt nur zu rund 25 Prozent ausgelastet gewesen seien. Weitere Kapazitäten seien nicht notwendig.
Pipelines könnten künftig für Wasserstoff verwendet werden.
Auf die Frage, wie die Ausbaupläne zu den EU-Klimazielen passen, verweisen die europäischen Gasnetzbetreiber auf eine Roadmap, um Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen. Demnach könnten die Pipelines in Zukunft etwa teilweise für Wasserstoff umgewidmet werden. Tatsächlich sind auch für Projekte wie den Transport von mit Ökostrom erzeugtem «grünem» Wasserstoff oder die unterirdische Speicherung von CO₂ europaweit Investitionen von mehr als 20 Milliarden Euro geplant. Die Niederlande streben etwa bis 2030 ein eigenes Netz an Wasserstoff-Pipelines an, auch in Deutschland gibt es hierzu Pilotprojekte.
Jedoch sind die meisten Vorhaben noch in einem sehr frühen Stadium. Zudem möchte die Industrie auch das sogenannte Blending von Wasserstoff ermöglichen – die Beigabe eines kleinen Anteils an grünem Wasserstoff in bestehende Erdgas-Netze. Kritiker befürchten, dass die Industrie so versucht, sich reinzuwaschen, während das bestehende fossile Geschäftsmodell so lange wie möglich erhalten bleibt.
Einen gewissen Schub erhält der Umstieg auf grünen Wasserstoff von der Überarbeitung der sogenannten TEN-E-Verordnung, über die demnächst das EU-Parlament entscheidet. Sie regelt die transeuropäischen Energienetze und entscheidet mit darüber, welche Vorhaben gefördert werden. Der Vorschlag der EU-Kommission sieht vor, künftig keine Erdgasprojekte mehr zu fördern. Stattdessen rücken smarte Stromnetze oder grüner Wasserstoff in den Fokus. Allerdings würden die neuen Regeln erst für die übernächste Liste gemeinsamer Projekte gelten, die voraussichtlich in drei Jahren bekannt gegeben wird. Bis dahin dürften etliche neue Pipelines und Flüssiggas-Terminals beschlossen oder schon gebaut sein, bereit, jahrzehntelang fossiles Gas zu transportieren.
Fehler gefunden?Jetzt melden.