Ermittler gegen Geheimloge P2Als er die Liste mit den 963 Namen fand, hatte Italien seinen grössten Skandal
Niemand kennt die Geschichte der rätselhaftesten Veschwörung Italiens besser als der ehemalige Untersuchungsrichter Giuliano Turone. Besuch bei jemandem, der in den Abgrund blickte.
Vor 42 Jahren hielt Giuliano Turone die Mitgliederliste einer Geheimorganisation in der Hand, und was er las, raubte ihm den Atem. Heute, an einem verhangenen Mailänder Nachmittag Ende Oktober, sagt der ehemalige Untersuchungsrichter: «Die Geschichte der italienischen Republik ist ein Horrorfilm.»
Man nannte es «Strategie der Spannung», man sprach von «potere occulto», «verborgener Macht» und von «anni di piombo», «bleiernen Jahren». Anderthalb blutige italienische Jahrzehnte, vom Ende der Sechziger- bis Mitte der Achtzigerjahre, geprägt von Morden und Massakern, deren Opfer und Tatorte sich in einer Litanei des Schreckens aneinanderreihen. Die Explosion einer Bombe auf der Piazza Fontana in Mailand am 12. Dezember 1969, 17 Tote und 88 Verletzte. Gioia Tauro, 22. Juli 1970, Bombenanschlag auf einen Zug, 6 Tote und Dutzende Verletzte.
Am 28. Mai 1974 explodiert in Brescia während einer Demonstration ein Sprengsatz, 8 Tote und mehr als 100 Verletzte. Wenige Monate später, Anschlag auf den Schnellzug Italicus, 12 Tote und mehr als 100 Verletzte. Der rote Renault 4 in der Via Michelangelo Caetani in Rom, in dessen Kofferraum am 9. Mai 1978 die Leiche von Aldo Moro gefunden wird, einer der mächtigsten italienischen Politiker der Nachkriegszeit. 55 Tage hat er als Geisel der Roten Brigaden verbracht, dann haben ihn die Linksterroristen mit acht Schüssen hingerichtet.
Ein Jahr später, Ermordung des Journalisten und politischen Störenfrieds Carmine Pecorelli in Rom. Am 2. August 1980 reisst eine Bombe im Bahnhof von Bologna 85 Menschen in den Tod.
Die vollständige Liste der Morde und Anschläge ist länger. Viel länger.
Eine unglaubliche Entdeckung
Und am 17. März 1981 durchsuchen Ermittler in Castiglion Fibocchi, einem Dorf in der Toskana, die Villa und die Textilfabrik des Unternehmers Licio Gelli. Dabei stossen sie auf die Mitgliederliste einer Geheimloge namens P2 – 963 Namen, unter ihnen fast 150 Offiziere von Polizei und Armee, sämtliche Chefs der Geheimdienste, ein Verfassungsrichter, 59 Parlamentarier, Chefredakteure wichtiger Medien, Journalisten, Industrielle, ein Unternehmer namens Silvio Berlusconi. Den Durchsuchungsbefehl hat der Mailänder Richter Giuliano Turone ausgestellt.
Heute ist Turone ein 82-jähriger Mann mit weissem Haarschopf, weissem Fünftagebart und melancholischem Blick. Seine Wohnung in Mailand hat hohe Decken, die Möbel sind von klassisch-funktionaler Eleganz, an den Wänden hängen goldgerahmte Ölgemälde und Modernes. Turone spricht mit fester, etwas heiserer Stimme. Manchmal lacht er auf, als könne er selber nicht glauben, was er gerade gesagt hat. Und manchmal bricht er ab, schaut einen Moment vor sich hin und beginnt den Satz von vorn, als wolle er sagen: zu kompliziert, zu verworren, ich muss das einfacher erklären.
«Mit der P2 hatten wir Italien in der Hand.»
Jahre nach der Entdeckung der Liste wird Licio Gelli sagen: «Mit der P2 hatten wir Italien in der Hand.»
Die P2, für Propaganda 2, ist eine dunkle antidemokratische Parallelmacht. Ein weitverzweigtes Netzwerk, mit der Mafia, linken und rechten Terrorgruppen, vatikanischen Financiers, in- und ausländischen Geheimdiensten, politischen und wirtschaftlichen Interessenverbänden als Knotenpunkte. «Alles hängt irgendwie mit allem zusammen», dieser Refrain jeder Verschwörungstheorie, rückt der Realität selten so nahe wie zu jener Zeit in Italien. Die Geheimloge P2 ist bis heute der grösste Skandal in der skandalreichen Geschichte der italienischen Republik.
Darüber hat Turone ein Buch geschrieben, das soeben unter dem Titel «Geheimsache Italien. Politik und Verbrechen» auf Deutsch erschienen ist. Turone, von 1970 bis 1987 Untersuchungsrichter in Mailand, ehemaliger Richter des Kassationsgerichtshofs sowie emeritierter Professor für Investigationstechniken, kann sich auf eigene Erfahrungen stützen, anders als die vielen Journalisten, Politologen und Historiker, die zu diesem oder ähnlichen Themen geschrieben haben.
Es ist ein spannendes Buch, dem man das modische Etikett True-Crime-Thriller aufkleben könnte. Es ist aber auch ein anspruchsvolles Buch, weil es anhand zahlloser Gerichtsdokumente, Verhörprotokolle und Zeugenaussagen versucht, Ereignisse und Zusammenhänge trotz ihrer ganzen Verworrenheit detailgenau zu schildern.
Auf die Frage, ob es heute in Italien eine Politikerin, einen Politiker, eine politische Kraft gibt, die er für vertrauenswürdig hält, sagt Turone: «Aber selbstverständlich!» Und wer wäre das? Turone überlegt einen Moment und wechselt das Thema.
Warum gerade Italien? Eine Kulturnation ohnegleichen, ein Gründungsmitglied der EU, eine der grössten Volkswirtschaften der Welt – warum ist ein solches Land in den Strudel geraten, den Turone in seinem Buch schildert? Der Autor, ab und zu mit den Knöcheln auf die dunkle hölzerne Tischplatte klopfend, zählt drei Gründe auf, drei – wie er sie in seinem Buch nennt – «singuläre historische Faktoren», die Italien von allen anderen europäischen Staaten unterscheiden.
Erstens, dass Süditalien lange von fremden Mächten wie den Byzantinern, den Arabern und den Spaniern dominiert wurde. Deren Zentren lagen fern, die Herrschaftsgebiete waren weitläufig und schwer zu kontrollieren, und so trat in Süditalien an die Stelle schwacher staatlicher Autoritäten eine andere Macht, nämlich jene der Mafia.
Der fiebrige Albtraum des Bürgertums
Zweitens der jahrhundertelange Einfluss des Papstes und des Kirchenstaates, der es ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielen Italienerinnen und Italienern erschwerte, gegenüber dem Nationalstaat, seinen Repräsentanten und Institutionen Loyalität zu empfinden.
Und drittens die Tatsache, dass in Italien nach dem 2. Weltkrieg die grösste kommunistische Partei im freien Westen entstand. Der PCI, so schildert es Turone, bescherte dem italienischen Bürgertum und den Konservativen, der US-Regierung und den übrigen westlichen Alliierten einen fiebrigen Albtraum: dass eines der grossen europäischen Länder in den Machtbereich des Sowjetkommunismus gesaugt werden könnte wie in ein schwarzes Loch.
Um dies zu verhindern, schien alles legitim: die Toleranz gegenüber mafiösen, aber nicht kommunistischen Bürgermeistern in Süditalien, die Existenz von Geheimdiensten, die mit Terroristen zusammenarbeiteten, Ströme schmutzigen Geldes. Turone sagt: «Italien war damals bestenfalls eine Halbdemokratie. Die verborgene Macht, wie sie sich in der Geheimloge P2 manifestierte, hatte alles Interesse daran, ein Gefühl der Bedrohung, Angst vor politischer Instabilität, den Schrecken eines gewalttätigen Ausnahmezustandes heraufzubeschwören.» So wäre es möglich gewesen, fährt Turone fort, jederzeit einen autoritären Staatsstreich zu rechtfertigen. Selbst dann noch, als der PCI sich längst vom Sowjetkommunismus losgesagt hatte.
Hunderte Namen bleiben im Dunkeln
Die Liste von Castiglion Fibocchi enthält nur einen Teil der P2-Geheimloge-Mitglieder. Rund 1500 bleiben im Dunkeln. Turone spricht von Gespenstern, über deren Identität bis heute gerätselt wird. Selbst wenn mittlerweile viele von ihnen tot sind, ist es laut dem früheren Ermittler durchaus möglich, dass sich das Geheimsystem an die heutige Zeit angepasst und überlebt hat, zumindest teilweise.
Die P2-Liste lässt zwar die damalige Regierung unter Premierminister Arnaldo Forlani stürzen, doch werden Turone und seinem Team die Ermittlungen entzogen, zugunsten einer Einheit in Rom, die möglichst wenig tut und dies möglichst langsam. Dennoch gelingt es, mehrere Verbrechen aufzuklären, es gibt eine parlamentarische Untersuchungskommission, einige Täter erhalten lange Haftstrafen. Doch werden manche nach seltsamen Prozessen in höherer Instanz freigesprochen, oder sie profitieren davon, dass ihre Taten verjährt sind. Oder sie kommen nach kurzer Zeit aus einem anderen Grund frei.
In wessen Hand liefen die Fäden zusammen?
Vieles bleibt bis heute rätselhaft. Vor allem die Frage, ob die Fäden des dunklen Netzwerks in Wahrheit in den Händen von Giulio Andreotti zusammenliefen, dem mächtigsten italienischen Politiker der Nachkriegszeit. Trifft der Verdacht, für den es viele Indizien und Zeugenaussagen gibt, zu – dann war in Italien der einflussreichste Repräsentant der politischen Macht und einer der wichtigsten Drahtzieher aus der kriminellen Schattenwelt jahrelang ein und dieselbe Person.
Obwohl Turone und mit ihm das Bestreben nach Aufklärung und Gerechtigkeit letztlich gescheitert sind, strahlt er heute vor allem eines aus: Gelassenheit. Und das Bewusstsein, getan zu haben, was ihm möglich war. Einmal hat er einen Briefumschlag erhalten mit drei abgebrannten Streichhölzern darin und seinem Foto, zerstückelt in unzählige Schnipsel. Und was bedeutete das? «Eine Nachricht der Mafia: Du bist tot.» Warum lebt er dann noch? Weil man ihm den betreffenden Fall kurz darauf entzogen habe, um ihn versanden zu lassen. Die Machenschaften des Systems, um Aufklärung zu hintertreiben, hätten ihn gerettet, sagt Turone. Trockenes Lachen. Da er keine Kinder habe, sei immerhin nur er bedroht worden.
Als grosser Kämpfer in einem metaphysischen Ringen zwischen Gut und Böse hat sich Turone nie gesehen. In nüchternem Ton spricht er von der Magistratura, der Justiz, als einer Instanz, die sich in Teilen der dunklen Macht entgegengestellt habe, phasenweise erfolgreich, dann wieder weniger. Dass die gerade amtierende rechtsnationalistische Regierung versucht, die Befugnisse von Richtern und Ermittlern einzuschränken, beweist für Turone: Auch wenn es heute keine Attentate mehr gibt, keine kommunistische Partei und keinen Kalten Krieg, ist der Geist von damals noch da.
«Ich habe das Privileg, bald gehen zu können.»
Italien, ein Horrorfilm? Hat Turone nie daran gedacht, das Land zu verlassen? Er schüttelt den Kopf. «Dante Alighieri. Anna Magnani. Syrakus. Wie könnte ich dieses Land verlassen?»
In Turones Mailänder Arbeitszimmer hängt ein Foto des Schauspielers Roberto Benigni, wie er lachend den Kopf zwischen den Händen wiegt, als verfolge er eine unfassbare Tragikomödie. Als Licio Gelli, der mutmassliche Grossmeister der Loge P2, mit 96 Jahren in seiner Villa bei Arezzo stirbt, finden sich in seinem Nachlass mehr als 50 Briefe, unter anderem vom ägyptischen Schriftsteller Naguib Mahfouz sowie von Mutter Teresa von Kalkutta. Sie fordern, gemeinsam mit anderen nationalen und internationalen Persönlichkeiten, der Verbrecher Gelli, der in späten Jahren zu dichten begonnen hat, solle den Nobelpreis für Literatur erhalten.
Auf die Frage, ob er eher Optimist oder Pessimist sei, antwortet Turone: «Ich habe das Privileg, 82 Jahre alt zu sein und bald gehen zu können.»
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