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Krise in der Türkei
Kommt es jetzt zum Aufstand gegen Erdogan?

Ein Demonstrant hält eine türkische Flagge, während die Bereitschaftspolizei bei einem Protest nach der Verhaftung von Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu in Istanbul Wache steht.
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Was ist passiert?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat letzte Woche seinen aussichtsreichen Rivalen Ekrem Imamoglu festnehmen lassen. Gründe sind Korruptions- und Terrorermittlungen. Wegen der Korruptionsvorwürfe sitzt Imamoglu inzwischen in Untersuchungshaft. Konkret geht es um den Verdacht der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Erpressung, Bestechung, Betrug und Ausschreibungsmanipulation.

Ekrem Imamoglu hält am 22. Mai 2019 in Istanbul eine Rede während eines politischen Kampagnentreffens. Im Hintergrund ist das Motto ’her şey çok güzel olacak’ zu sehen.

Bei den Terrorermittlungen geht es um den Vorwurf der Unterstützung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Imamoglu bestreitet alle Vorwürfe und wirft der Regierung vor, ihn mit den Ermittlungen als politischen Rivalen ausschalten zu wollen. Das Innenministerium erkannte Imamoglu wegen der Untersuchungshaft am Sonntag das Bürgermeisteramt von Istanbul ab.

Was sind Erdogans Motive?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gestikuliert während einer Rede auf dem 8. Ordentlichen Grosskongress der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in der Ankara Arena, Ankara, am 23. Februar 2025.

Auch wenn es ein Richter ist, der Imamoglu des Terrorismus und der Korruption beschuldigt, ist die Gewaltenteilung in der Türkei mittlerweile so geschwächt, dass die Festnahme laut den meisten Beobachtern nur als Handstreich des Präsidenten gegen seinen Hauptkonkurrenten im Vorfeld der Wahlen 2028 interpretiert werden kann. Zu diesen kann Erdogan selbst legal nicht antreten, es sei denn, er ändert die Verfassung.

Ein Demonstrant liest ein Buch von Erdogan vor den Barrikaden der türkischen Bereitschaftspolizei, während Demonstranten am 23. März 2025 von der Istanbuler Rathauszentrale zum Taksim-Platz marschieren. Anlass ist der Protest gegen die Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu.

Wie gefährlich kann Imamoglu Erdogan werden?

Ekrem Imamoglu ist deutlich populärer und charismatischer als Kemal Kilicdaroglu, der Erdogan bei den Wahlen vor zwei Jahren an den Rand einer Niederlage brachte. In den meisten Meinungsumfragen liegt er vor dem Langzeitregenten. Vor allem die fortschrittlichen Kräfte in der Türkei sammeln sich hinter dem Bürgermeister von Istanbul, der 2019 die 25-jährige Herrschaft von Erdogans AKP in der grössten Metropole des Landes beendet hatte. Nicht nur diese Zeitung geht deshalb davon aus, dass Erdogan in einem Duell gegen Imamoglu eher schlechte Chancen hätte. Anders sieht es aus, sollte die CHP Imamoglu nicht aufstellen können. Dann könnte der eher nationalistische Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavas, zum Zuge kommen – und kurdische Wähler angesichts des neu aufgegleisten Friedensprozesses ins Lager von Erdogan wechseln.

Seit Tagen gibt es Proteste. Kommt es jetzt zum Aufstand gegen Erdogan?

Ein Demonstrant in einem Sufi-Mönch-Kostüm tanzt vor Absperrungen der türkischen Bereitschaftspolizei während eines Protests gegen die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu am 23. März 2025 in Istanbul, Türkei.

Die Proteste in der Türkei sind trotz eines Demonstrationsverbots in den letzten Tagen grösser geworden. Am Sonntagabend protestierten in Istanbul offenbar Hunderttausende vor der Stadtverwaltung. Der CHP-Chef sprach gar von einer Million Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Eine entscheidende Rolle bei den Protesten spielen Studierende. «Ich grüsse die Millionen, die heute Abend auf dem Sarachane-Platz und auf den Plätzen überall in meinem Land ihre Stimme erhoben haben», hiess es in einer Mitteilung, die auf Imamoglus X-Account veröffentlicht wurde: «Sie haben Erdogan gesagt: ‹Jetzt reicht es!›» Bei den Demonstrationen wurden bisher laut Innenminister Ali Yerlikaya 1’133 Personen verhaftet. Darunter sollen auch zehn Journlisten sein.

Ob sich die Proteste nun weiter hochschaukeln, ist schwierig abzuschätzen. Bereits 2013 brachten Massendemonstrationen Erdogan in Bedrängnis. Damals liess er im Istanbuler Gezi-Park ein Camp von Umweltschützern von der Polizei gewaltsam räumen.

Ein Demonstrant hält eine brennende Fackel vor dem Rathaus von Istanbul bei einer Kundgebung zur Unterstützung des Bürgermeisters Ekrem Imamoglu nach seiner Festnahme am 23. März 2025.

Wie geht es jetzt für Ekrem Imamoglu weiter?

Ungeachtet seiner Inhaftierung wurde der Bürgermeister von Istanbul gestern zum Präsidentschaftskandidaten der CHP gewählt. Zudem sollen Millionen Menschen in der Türkei ihre Stimme symbolisch an sogenannten Solidaritätswahlboxen für Imamoglu abgegeben haben. Offizieller Kandidat ist Imamoglu erst, wenn die als regierungsfreundlich geltende türkische Wahlbehörde YSK seine Kandidatur bestätigt. Sollten die Ermittlungen nicht eingestellt werden, ist die Annahme seiner Kandidatur unwahrscheinlich. Erst recht, weil Imamoglu auch der Universitätsabschluss aberkannt wurde. Die Entscheidung ist noch nicht endgültig, aber ein Universitätsabschluss ist in der Türkei Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur.

Demonstranten in Istanbul halten Plakate zur Unterstützung des verhafteten Bürgermeisters Ekrem Imamoglu, während sie am 23. März 2025 Parolen rufen.

Das Vorgehen gegen Imamoglu wird dessen Beliebtheit vorderhand steigern. Hier gibt es Parallelen zwischen Imamoglu und Erdogan, die nicht nur die Herkunft aus der Provinz Rize am Schwarzen Meer verbindet. Auch Erdogan war einmal Istanbuler Bürgermeister und begann von dort aus seinen politischen Aufstieg. Als Bürgermeister musste er 1999 wegen religiöser «Aufhetzung des Volkes» für vier Monate ins Gefängnis. Nun ist er Präsident.

Was für Auswirkungen hat die Inhaftierung Imamoglus für die Türkei und Europa?

Imamoglus Inhaftierung droht, die Türkei politisch und wirtschaftlich in einem kritischen Moment zu destabilisieren, in dem Europa und die Nato das Land als verlässlichen Partner brauchen. Zumindest international hat Erdogan allerdings wenig zu befürchten. Der türkische Staatschef weiss, dass die EU zu schwach ist, um gegen antidemokratische Aktionen vorzugehen. Zudem hat der türkische Präsident mit der Migration aus dem Nahen Osten ein politisches Druckmittel gegen Europa.

Auch die USA wird sich kaum in den türkischen Konflikt einmischen. Oppositionelle Kräfte werfen Donald Trumps Vertrautem Elon Musk gar vor, mit der Abschaltung zahlreicher oppositioneller Accounts auf X Stellung bezogen zu haben für Erdogan. Die Türkei gehört seit Jahren zu den Ländern, die am meisten Anfragen an X stellen, regierungskritische Konten zu blockieren. Klar ist: Die Festnahme des sichtbarsten Vertreters der türkischen Opposition verschärft in der Aussendarstellung den autoritären Kurs von Erdogan.

Die innenpolitische Krise in der Türkei schlägt auf die Finanzmärkte durch. Die Landeswährung Lira sackte zum US-Dollar auf ein Rekordtief ab, der Aktienmarkt brach ein, und am Anleihenmarkt zogen die Renditen deutlich an.

Protestierende in Berlin formen ein Herz während einer Demonstration gegen die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu.

DPA/nlu