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Proteste in der Türkei
Boykotte sollen Erdogan schwächen

Ozgur Ozel, Vorsitzender der türkischen Oppositionspartei CHP, winkt bei einer Kundgebung am 29. März 2025 in Maltepe, Istanbul, zur Unterstützung des verhafteten Bürgermeisters Ekrem Imamoglu, umgeben von einer Menschenmenge mit roten Fahnen.
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In Kürze:
  • Die Opposition ruft zum landesweiten Boykott regierungsnaher Unternehmen auf.
  • CHP-Chef Özel plant regelmässige Grosskundgebungen in verschiedenen türkischen Städten.
  • Rund 73 Prozent der Bevölkerung befürworten die aktuellen Proteste.
  • Erdogans Strategie mit verlängerten Zuckerfest-Ferien zeigt wenig Wirkung gegen Demonstrationen.

Am Samstag um 14.56 Uhr stand der türkische Oppositionsführer in Istanbul auf der Bühne, neben sich das Marmarameer, vor sich mehrere Hunderttausend Menschen, laut seinen eigenen Angaben sogar 2,2 Millionen, da schaute er auf die Uhr. Sollte der Nachrichtensender NTV bis um 15 Uhr nicht anfangen, die Kundgebung zu übertragen, sagte Özgür Özel, werde sich der Boykottaufruf der Opposition ab sofort auch gegen den Sender richten.

«Es sind die letzten vier Minuten», sagte Özel. «Wer diesen Platz nicht sieht, dem werde ich die Macht dieses Platzes zeigen.» Er meinte die Macht der Menschenmassen, die am siebten Tag nach der Verhaftung Ekrem Imamoglus zusammengekommen waren, des designierten Präsidentschaftskandidaten der oppositionellen CHP. Özel ist deren Vorsitzender.

Özel sieht seine Aufgabe jetzt darin, aus den Protesten in der Türkei eine Bewegung zu formen, die anhält. Seit die türkische Justiz gegen Imamoglu vorgegangen ist, ihn von der Polizei hat abholen und inhaftieren lassen, erlebt das Land die grössten Demonstrationen seit jenen im Istanbuler Gezi-Park im Sommer 2013. Allerdings gehen diesmal auch Menschen auf die Strasse, die damals zögerten, es sind nicht allein linke Proteste. Auf den Strassen sind sie überzeugt, dass Präsident Erdogan persönlich seinen populären Herausforderer verhaften liess.

Luftaufnahme einer grossen Menschenmenge bei einer Demonstration in Istanbul, organisiert von der Republikanischen Volkspartei gegen die Verhaftung des Bürgermeisters Ekrem Imamoglu.

Der Präsident ist von der Wucht der Reaktion offenbar überrascht und scheint nach wie vor darauf zu setzen, dass die Proteste abklingen und dass Imamoglu in Vergessenheit geraten wird, bis es ohnehin erst 2028 zu Wahlen kommen soll. Dieses Kalkül will Oppositionsführer Özel durchkreuzen. Das Land soll im Ausnahmezustand bleiben, solange Imamoglu nicht freikommt. Wichtig dabei ist eine Boykottkampagne.

Am Samstag, als die 4-Minuten-Frist um war, liess Özel NTV wissen, dass die Anhänger der Opposition von nun an nicht nur den Sender boykottieren würden. Sie sollen, so Özel, auch die Konzerne meiden, die bei NTV werben. Dasselbe gilt für andere Erdogan-treue Kanäle wie ATV oder das staatliche TRT, die Özels Kundgebung ignorierten.

Die CHP glaubt, Boykotte sind dauerhafter als Proteste

Inzwischen boykottieren die Gegner des Präsidenten eine ganze Reihe von Unternehmen, die entweder in Verbindung zu Erdogan stehen oder denen regierungstreue Medien gehören. Auf der Liste stehen nicht nur Firmen wie die Kaffeekette Espressolab oder die Buchläden von D&R, sondern auch Volkswagen und Audi, deren türkischer Vertrieb über die Dogus Holding läuft – ihr gehört der Sender NTV.

In der CHP glauben sie, dass sich ein Boykott länger durchhalten lässt als tägliche Strassenproteste. Ausserdem könnte wirtschaftlicher Druck den Präsidenten noch mehr stören. Einerseits, weil er mit Erdogan befreundete Unternehmer trifft, also den Machtapparat. Andererseits, weil Erdogans Partei, die AKP, wegen der Wirtschaftskrise vor einem Jahr schon die Kommunalwahlen verlor. Boykottaufrufe und politische Instabilität machen es Erdogan schwer, Investoren ins Land zu holen.

Menschen schwenken türkische Flaggen und skandieren Slogans während einer Massenkundgebung zur Unterstützung des inhaftierten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu am 29. März 2025 in Istanbul, Türkei.

Den Anhängern der Opposition gibt das Boykottieren das Gefühl, dass sie ein Mittel gegen den Präsidenten gefunden haben, nachdem es bisher die Regierung war, die bestimmte Medien auszuschalten versuchte. Erst vergangene Woche sprach sie gegen Sözcü TV ein zehntägiges Sendeverbot aus, weil der Sender Özgür Özels Reden übertragen hatte.

Der CHP-Chef verkündete am Wochenende, dass die Partei von nun an zweimal die Woche zu Grossveranstaltungen laden werde: immer mittwochs in wechselnden Stadtteilen von Istanbul und samstags in wechselnden Städten. Ausserdem startete er eine Unterschriftenaktion für Imamoglus Freilassung und Neuwahlen. Auch damit will Özel die Demos der Studentinnen und Studenten unterstützen und verhindern, dass der Druck auf die Regierung abnimmt.

Freie Tage zum Zuckerfest verhindern die Demonstrationen nicht

Der Präsident dagegen hatte zum Ende des Ramadans spontan die Feiertage verlängert und den Staatsbediensteten die ganze kommende Woche freigegeben. Wohl in der Hoffnung, dass sich viele Privatfirmen anschliessen und die Menschen zu ihren Familien aufs Land fahren würden, sodass es auf den Strassen ruhiger wird.

Momentan macht es in der Türkei allerdings nicht den Eindruck, als würde es so kommen. Laut einer Umfrage des Konda-Instituts halten 73 Prozent der Bürgerinnen und Bürger die Proteste für gerechtfertigt. Regierungsvertreter, die auf X frohe Feiertage wünschen, bekommen wütende Antworten. «Ihnen besonders wünsche ich keine schönen Feiertage», schreibt eine Frau unter einen Post von Erdogans Sprecher. Ein Mann schreibt, er denke an die Familien, deren Kinder demonstrierten und nun die Feiertage in Untersuchungshaft verbringen.

Anderswo ist X auch noch für Satire gut. Ein Account parodiert die PR-Abteilung von Espresso Lab, der vom Boykott betroffenen Kaffeekette. «Geröstet mit AKP-Schnurrbart», steht in dem Profil, eine Anspielung auf die bei Erdogan-Anhängern beliebte Gesichtsbehaarung. Es ist solche Häme, die sich nun gegen den Präsidenten entlädt. Und gegen seine Baristas.