Wachstumskurven für KinderIst mein Kind zu klein oder zu schwer?
Ob ein Kind richtig wächst, sieht der Arzt auf den Wachstumskurven. Doch jetzt gibt es Streit unter den Experten, wie diese Kurven verlaufen sollen. Gelten zu viele Kinder als übergewichtig und müssen die Basisdaten von Schweizern stammen?
Alle Eltern kennen sie: die Wachstumskurven, mit denen Kinderärzte in der Schweiz kontrollieren, ob ein Kind richtig wächst. Die Kurven sind wichtig. Denn hinter einem verzögerten Wachstum können ernsthafte Krankheiten stecken, Stoffwechselstörungen beispielsweise oder in sehr seltenen Fällen ein Hirntumor. Rechtzeitige Diagnosen sind da entscheidend. Auch bei der Frage, ab wann ein Kind als übergewichtig gilt, spielen die Kurven eine Rolle. Übergewicht im Kindesalter kann gesundheitliche Spätfolgen haben.
Doch jede Kurve ist nur so gut wie die Daten, die ihr zugrunde liegen. Und genau um diese Basis-Daten gibt es nun Streit zwischen der Fachgesellschaft der Schweizer Kinderärzte (Pädiatrie Schweiz) und dem privaten Pädiatrisch-Endokrinologischen Zentrum Zürich (Pezz). Dabei geht es um Grundsätzliches: Die Experten sind sich nicht einig, welche Daten für die Wachstumskurven als Basis dienen sollen und ob es entscheidend ist, dass diese Basisdaten von Schweizer Kindern stammen.
«Das Kindeswohl ist nach wie vor gewährleistet»
«Mit den aktuellen Kurven könnte sich die Diagnose einer ernsthaften Erkrankung um rund vier Jahre verzögern», sagt Urs Eiholzer, Kinderarzt, Wachstumsspezialist und Gründer des Pezz. Eiholzer veröffentlichte im November 2019 eine Studie zum Wachstum, die auf Daten von rund 30’000 Kindern aus der Ostschweiz basiert. Gleichzeitig schlug er vor, die momentan in der Schweiz empfohlenen Wachstumskurven mit seinen Daten zu ersetzen, da es wichtige Abweichungen gebe. Die geltenden Kurven seien bei der Grösse zu tief und beim Gewicht zu streng angesetzt. Die Ärzte könnten eine Wachstumsstörung deshalb erst zu spät bemerken und gleichzeitig zu viele Kinder als übergewichtig einstufen.
Pädiatrie Schweiz hat nun eine Stellungnahme zu dieser Forderung veröffentlicht, pandemiebedingt mit etwas Verzögerung. Die Kinderärzte empfehlen, an den momentan gültigen Wachstumskurven vorläufig festzuhalten. «Das Kindeswohl ist nach wie vor gewährleistet», schreiben die Pädiater. Trotzdem schlägt die Fachorganisation vor, die Wachstumsdaten in einer «neuen umfassenden Studie» zu überprüfen. Wichtig sei dabei jedoch auch, die Westschweiz zu berücksichtigen und Langzeitbeobachtungen miteinfliessen zu lassen, also die gleichen Kinder immer wieder zu vermessen. Beides habe die Studie von Eiholzer nicht geleistet. Die Studie sei jedoch «wissenschaftlich und statistisch gut fundiert».
«Nicht ein Punkt auf der Kurve zählt, sondern der Wachstumsverlauf und das Umfeld des Kindes.»
In der Schweiz gelten seit 2011 einheitliche Kurven, zuvor gab es einen föderalistischen Flickenteppich. Diese von Eiholzer kritisierten Kurven basieren auf Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie stützen sich auf mehrere Quellen, darunter auch Langzeitbeobachtungen, berücksichtigen aber keine Daten von Schweizer Kindern, sondern solche aus Norwegen, USA, Brasilien, Oman, Indien und Ghana.
Das kritisiert Eiholzer. «Die WHO-Kurven passen nicht auf die Schweizer Population. Schweizer Kinder sind im Vergleich bis zu vier Zentimeter grösser.» Leidet ein Kind beispielsweise an Zöliakie – einer chronischen Darmkrankheit –, so wachsen diese Kinder langsamer. Bei diesem Krankheitsbild könnte die Diagnose ein Jahr zu spät erfolgen, sagt Eiholzer.
Kinderarzt Philipp Jenny, Vizepräsident bei Pädiatrie Schweiz, widerspricht. «Wachstumskurven sind nur eines von mehreren Instrumenten, die wir nutzen», sagt Jenny, der in Altstätten SG eine Kinderarzt-Praxis führt. «Ich sehe doch, wo jedes Kind in seiner individuellen Entwicklung steht.» Genauso schätzt das auch Michael Hauschild ein, Kinder-Endokrinologe und Wachstumsexperte am Lausanner Universitätsspital Chuv. «Nicht ein Punkt auf der Kurve zählt, sondern der Wachstumsverlauf und das Umfeld des Kindes. Die Kinderärzte in der Schweiz haben die Ausbildung, um diese Wachstumsverläufe zu beurteilen.»
Am Ideal festhalten
Uneinig sind sich die beiden Parteien in grundlegenden Fragen. Sollen Wachstumskurven beim Gewicht den Ist-Zustand eines Landes abbilden, also auch übergewichtige Kinder in einen Durchschnittswert einrechnen, so wie Eiholzer das macht? Oder sollen die Kurven einen Normwert vorgeben, der für die Gesundheit beim Körpergewicht am besten ist, so wie die aktuellen Schweizer Kurven das machen? Ein Kind gilt dann schneller als übergewichtig als bei Eiholzers Kurven. «Die WHO-Kurven führen zu einer Verdoppelung der in der Schweiz als fettleibig eingestuften Kinder». sagt Eiholzer.
«Wir sollten Übergewicht im Kindesalter nicht zur Norm erklären», sagt hingegen Kinder-Endokrinologe Hauschild. Es könne lebenslange gesundheitliche Folgen haben und nehme weltweit zu. Deshalb sieht es die Fachgesellschaft als wichtig an, die Kurven nicht dem Ist-Zustand anzupassen, sondern am Ideal festzuhalten.
Wachstumsspezialist Eiholzer, der ein erfolgreiches Institut aufgebaut hat, nimmt den Konflikt als Sabotage seiner Arbeit wahr. «Die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie verweigert den wissenschaftlichen Diskurs», sagt er. Das Vorhaben einer breit angelegten Schweizer Studie würde viel zu lange Zeit in Anspruch nehmen. Und der Einbezug der Westschweiz würde die Daten kaum verändern, ist Eiholzer aufgrund seiner statistischen Berechnungen überzeugt. Zu ihm kämen viele Eltern, die sich sorgten, ob ihr Kind richtig wachse. Allerdings sei in rund 90 Prozent der Fälle alles in Ordnung.
Lebensumstände sind entscheidend
«Wir verweigern keine wissenschaftliche Debatte», entgegnet Hauschild. In dem Expertenstreit schwingt noch eine zweite grundsätzliche Frage mit: Sind die Gene, Nationalitäten, sozialen Umstände oder eine Mischung aus all diesen Faktoren für das Wachstum entscheidend? Eiholzer vergleicht in seiner Studie das Gewicht von Kindern mit Migrationshintergrund mit jenem von Kindern mit Schweizer Eltern.
«Eine Unterscheidung von Kurven nach Nationalität der Eltern ist irrelevant und irreführend», sagt jedoch Kinder-Endokrinologe Hauschild. Viel entscheidender als die nationale Herkunft seien die Lebensumstände eines Kindes und regionale Besonderheiten beispielsweise in der Ernährung oder der Bewegung. Die WHO-Daten würden beweisen, dass «die sogenannten genetischen Unterschiede wegfallen, wenn man das soziale Umfeld und Umweltfaktoren miteinbezieht.» Das zeigten gerade auch Daten von kleinen Kindern. Sind sie optimal ernährt, wachsen sie überall auf der Welt ungefähr gleich schnell.
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