Leser fragenIst es ethisch vertretbar, über Tyrannenmord zu fantasieren?
Die Antwort auf eine Leserfrage zum Thema das Böse und das «Volk».
Zu den besten Zeiten des Churer Bischofs Haas sagte mir eine Nonne, für den guten Tod einer Person zu beten, sei ihr gestattet. Mir ist das Beten nicht gegeben. Aber ich ertappe mich gelegentlich bei Gewaltfantasien im Zusammenhang z.B. mit dem amerikanischen oder brasilianischen Präsidenten, obschon das in krassem Widerspruch zu meinen Grundüberzeugungen steht. Was tun? P.E.
Lieber Herr E.
Das zeichnet einen Teil unserer Fantasien ja gerade aus: dass sie nicht unbedingt im Einklang zu unseren sonstigen Überzeugungen stehen. Sie dürfen in Ihren Tagträumen also durchaus kleine Bolsonaro- (oder Trump- oder Maduro-)Püppchen mit Stecknadel traktieren. Selbst wenn Sie echte Puppen piksten, gölte das lediglich als untauglicher und damit straffreier Versuch.
Wenns denn also Ihrem Seelenfrieden dient – nur zu. Allerdings ist der gewonnene Seelenfriede durch eine ziemliche politische Naivität erkauft. Die Welt wird nicht automatisch besser, wenn Autokraten, Diktatoren, dummdreiste Präsidenten, böse Politiker überhaupt von der Bildfläche verschwinden.
Abgesehen davon, dass es Schwierigkeiten mit der Definitionshoheit gibt, wer denn als böse zu gelten hat – der Nachschub an gleich gestricktem Personal ist einfach zu gross. Wer im Moment der Machtübernahme noch nicht böse ist, kann es ausserdem immer noch werden.
Jean Ziegler, unser Unentwegtester, ist das lebende Beispiel dafür, wie man systematisch auf die falsche Karte setzen kann. Immer noch das Modell aller Fantasien vom gerechtfertigten Tyrannenmord liefern die Anschläge auf Adolf Hitler. Wäre Hitler am 20. Juli 1944 umgekommen, wäre Hermann Göring sein Nachfolger geworden. Gewiss war es nicht der Plan, lediglich Göring an die Stelle Hitlers zu putschen. Aber die Vorstellung, das Dritte Reich sei im Grunde nur eine Art Abszess gewesen, den man nach Dr.-Pimple-Popper-Manier mit einem einzigen Schnitt aus der Welt hätte schaffen können, ist nicht nur realitätsfremd, sie deckt sich auch mit der Opfererzählung der Deutschen nach dem Krieg: Hitler war der Böse, und sie selber waren die verführte Unschuld.
Die Gewaltfantasie gegen den oder die «da oben» ist oft Teil einer Entlastungsstrategie für «das Volk», auf das man ja in jeder Demokratie bauen muss. Aber «das Volk» ist nicht nett und gut, es ist sehr durchwachsen. Der Tyrannenmord kann sich darum schnell zum Bürgerkrieg ausweiten. Stabile Demokratien beruhen darum nicht auf dem simplen Mechanismus der Umsetzung des Volkswillens durch oder notfalls auch gegen die Regierung; sie sind ein komplexes Gebilde von Institutionen, welche die Herrschaft von Menschen über andere Menschen zwar teils ermöglichen, zu einem wichtigen Teil aber auch begrenzen.
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