TV-Kritik «Tatort»Ist er ein Mörder, weil er einfach davonfährt?
Im neuen Stuttgarter Fall ermitteln die Kommissare wegen Fahrerflucht – und beginnen, an ihrem Beruf zu zweifeln.
Eine kleine Sekunde der Unaufmerksamkeit bei der nächtlichen Fahrt durch den Regen. Ein Knall. Was war das, ein Reh, eine Wildsau? Der Unfallverursacher steigt aus, will es aber nicht so genau wissen. Gleich sitzt er wieder im Wagen, fährt davon und liegt bei seiner Frau im Bett. Mörder!
Der Erste, der «Mörder!» sagt, ist der Gerichtsmediziner, der am nächsten Morgen zufälligerweise am Tatort vorbeifährt. Für ihn ist klar, dass der überfahrene Mann nicht gleich tot war. Hätte er Hilfe erhalten, wäre er noch am Leben. Aber die Kommissare zweifeln. Morduntersuchung? Wegen dieses winzigen Augenblicks, in dem jemand unaufmerksam war?
«Der Mörder in mir» – alle können gemeint sein
Klar, das Auto kann eine Waffe sein, Quentin Tarantino hat dazu einen Film gemacht («Death Proof», bei weitem nicht sein bester). Aber hier geht es nicht um böse Absichten und spektakuläre Stunts. Das Besondere an diesem Fall ist, dass er so gewöhnlich ist. «Der Mörder in mir» heisst er, und tatsächlich könnte er alle meinen, die je hinter einem Steuer sassen.
«Tatort»-Routinier Niki Stein, verantwortlich für Drehbuch und Regie, präsentiert einen ziemlichen Normalo als Fluchtfahrer. Am nächsten Morgen zeigt der Täter Reue, will zur Polizei gehen. Aber er hat eine Karriere, eine Familie, vielleicht kann er das Übel ja noch abwenden. So beginnt das Rad zu drehen, und alles wird immer schlimmer.
«Wieso machen wir das?», fragt sich die Polizei
Dieser Ben Dellien (Nicholas Reinke) ist der kleine Schwachpunkt in einem guten «Tatort»: Seine Figur wird, in ihrem ganzen Stress, nie richtig lebendig, bleibt Klischee mit Einfamilienhaus, schwangerer Frau, Aussicht auf Beförderung in einer Anwaltsfirma. Interessanter ist eine Nebenfigur: Tatiana Nekrasov als Mitarbeiterin in einer Autowäscherei. Sie könnte ihn verraten. Tut es aber nicht.
Aussergewöhnlich ist, dass ausgerechnet dieser unspektakuläre Fall die Kommissare an ihrem Tun zweifeln lässt: «Wieso machen wir das?», fragt Sebastian Bootz (Felix Klare) einmal schon fast verzweifelt, worauf ihm Thorsten Lannert (Richy Müller) einen Vortrag hält, dass die beiden mit ihrem Tun die Welt ein klein wenig verbessern können. Aber glaubt er selbst daran? Die Frage bleibt, bis zum überraschend gelungenen Schluss, offen.
Übrigens, der Unfall geschieht an einer Stelle, die «Elend» heisst. Wer denkt, das sei eine etwas plumpe Erfindung, liegt falsch. Eine Anhöhe dieses Namens gibt es wirklich, auf der ehemaligen Stuttgarter Rennstrecke Solitude, wo 1964 letztmals ein Formel-1-Rennen stattgefunden hat. Was die Menschen aber offenbar bis heute zum Rasen animiert in den schönen Waldkurven: Auch die beiden Kommissare werden geblitzt.
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