Abschied von «Bibi»Israels Parlament stimmt für neue Regierung
Ära «Bibi» geht nach 12 Jahren zu Ende: Die neue Koalition überstand am Sonntag vor ihrer Vereidigung eine entscheidende Vertrauensabstimmung im Parlament mit nur einer Stimme Vorsprung.
Keiner hat Israels Geschicke länger gelenkt als «Bibi»: Zwölf Jahre lang war Benjamin Netanyahu ohne Pause Ministerpräsident. Davor führte der rechtskonservative Politiker schon einmal in der zweiten Hälfte der 1990er die Regierung. Doch nun ist seine Ära zumindest vorübergehend zu Ende. Den Gegnern des 71-Jährigen ist es gelungen, zu seiner Ablösung ein bunt gemischtes Zweckbündnis aus nicht weniger als acht Parteien zu schmieden.
Die neue Koalition überstand am Sonntag vor ihrer Vereidigung eine entscheidende Vertrauensabstimmung im Parlament mit nur einer Stimme Vorsprung. Netanyahu und seine Likud-Partei hatten bis zuletzt massiv Widerstand geleistet, um die Ablösung doch noch zu verhindern. Bei der Abstimmung wurde es denkbar knapp: Die geplante Koalition konnte sich in der Knesset nur auf eine hauchdünne einfache Mehrheit stützen – 60 von 120 Abgeordneten. Das gegnerische Lager kam auf 59 Stimmen, es gab eine Enthaltung.
Ultrarechte Nachfolge
Wie geht es nach der Ablösung weiter? Neuer Ministerpräsident wird zunächst Naftali Bennett von der ultrarechten Jamina-Partei, der früher unter Netanyahu Verteidigungsminister war. Seine Eröffnungsrede im Parlament zeigte, mit welchem Gegenwind er rechnen muss. Sie wurde vom Netanyahu-Lager so massiv durch aufgebrachte Zwischenrufe gestört, dass er kaum einen Satz zu Ende sprechen konnte.
Der Koalitionsvereinbarung zufolge soll der 49-Jährige bis August 2023 im Amt bleiben. Dann käme Jair Lapid an die Reihe, der Vorsitzende der liberalen Zukunftspartei. Der 57-Jährige, ein ehemaliger TV-Journalist, hatte nach der jüngsten Wahl den Auftrag zur Regierungsbildung bekommen, nachdem Netanyahu damit gescheitert war. Lapid liess für das Amt des Ministerpräsidenten jedoch Bennett den Vortritt, um die Koalition überhaupt zu ermöglichen. Daran, dass die Partei von Israels designiertem Regierungschef in der Knesset gerade einmal über sieben Mandate vefügt, gibt es bereits erhebliche Kritik.
Die insgesamt acht Bündnispartner umfassen das politische Spektrum von rechts nach links. Erstmals ist auch eine arabische Partei dabei. Vor Lapids Zukunftspartei ist Netanyahus Likud mit 30 Mandaten aber immer noch stärkste Fraktion. Warum also muss der «Zauberer», wie Netanyahu zuhause von vielen genannt wird, die Macht ausgerechnet nun abgeben? Obwohl er gerade vergangenes Jahr viele Erfolge verbuchen konnte, im Kampf gegen Corona, aber auch durch Annäherungsabkommen mit mehreren arabischen Staaten?
Erwartete Gegenwehr aus der Opposition
Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Jonathan Rynhold sind die Gründe nicht ideologischer Natur, sondern persönlicher Art. «Seit Netanyahu wegen Korruption angeklagt ist, sind immer mehr Leute zu der Überzeugung gelangt, dass er seine eigenen Interessen über die Interessen des Landes stellt. Und dass der Preis dafür immer höher wird. Um einer Haftstrafe zu entgehen und an der Macht zu bleiben, agiert er zunehmend auf eine Weise, die selbst von früheren Anhängern als schädlich angesehen wird.»
Zudem hat Netanyahu viele frühere Verbündete verprellt. Eigentliche Gesinnungsgenossen aus dem rechten Lager sind nun beim Bündnis gegen ihn dabei. Für den Fall, dass der Machtwechsel tatsächlich stattfindet, wird erwartet, dass Netanyahu aus der Opposition heraus versucht, die neue Regierung zu Fall zu bringen. Deren Erfolgsaussichten sind ungewiss.
Wegen des breiten ideologischen Spektrums könne die Koalition «nichts Entscheidendes in umstrittenen Fragen bewegen», meint Rynhold. Sie werde stattdessen versuchen, «sich auf eine Agenda zu einigen, die die Öffentlichkeit attraktiv findet». Wichtigste Aufgabe sei, erstmals seit zwei Jahren einen Haushalt zu verabschieden. «Israel braucht mehr Krankenhäuser, die Schulklassen müssen kleiner und die Lebenshaltungskosten gesenkt werden.»
Siedlungsbau wird für Koalition zum Problem
Probleme drohten dagegen durch Aktivitäten rechtsgerichteter Gruppierungen, zum Beispiel beim Bau illegaler Siedlungsaussenposten. Die linksliberalen Parteien, die politische Mitte und die arabische Raam sind für die Gründung eines unabhängigen Palästinenserstaates. Bennett gilt dagegen als Galionsfigur der Siedler. «Die Regierung könnte unter Druck geraten, wenn rechtsorientierte Organisationen für Unruhe sorgen», meint der Politikwissenschaftler.
Im Fall einer neuen Konfrontation mit der im Gazastreifen herrschenden Hamas sieht Rynhold weniger Sprengpotenzial für das neue Bündnis. Die jüdischen Parteien seien sich über das Vorgehen gegen die militanten Islamisten grundsätzlich einig. Und der Vorsitzende der konservativ-islamischen Raam-Partei, Mansur Abbas, habe bereits gezeigt, «dass er unglaublich mutig und widerstandsfähig ist, als er sich der Koalition angeschlossen hat – trotz dessen, was gerade in Gaza passiert ist».
Abbas’ Entscheidung wird als Schritt zu mehr Integration der arabischen Minderheit eingestuft, die 20 Prozent der neun Millionen Israelis ausmacht. Teil der Koalitionsvereinbarungen sind auch Investitionen von umgerechnet mehr als 13 Milliarden Euro, verteilt über zehn Jahre, die der arabischen Gesellschaft zugute kommen sollen. Ausserdem sollen drei Beduinendörfer ohne offiziellen Status in der Negev-Wüste legalisiert werden.
Israels geschicktester Politiker
Die strengreligiösen jüdischen Parteien, bislang Teil fast jeder Regierung, blieben in der Opposition. Sie fürchten um grössere Mengen staatliches Geld, das in ihre Bildungseinrichtungen fliesst. Rynhold rechnet deshalb damit, dass sie sich um eine Vereinbarung mit der neuen Regierung bemühen, sollte diese die ersten Monate überstehen. «Die Koalition will binnen 100 Tagen den Haushalt verabschieden. Die Ultraorthodoxen brauchen das Geld. Entweder sie gehen in die Regierung oder sie unterstützen sie im Rahmen eines Deals von aussen.»
Rynhold sieht insgesamt mehr Chancen für ein Überleben der Koalition als für ihr Scheitern. Ganz abschreiben will er Netanyahu aber noch nicht. «Er ist Israels geschicktester Politiker», sagt der Politikwissenschaftler. Dass der bisherige Ministerpräsident nach einer Ablösung ein Comeback schafft, sei nicht ausgeschlossen.
Netanyahu selbst scheint jedenfalls fest damit zu rechnen. «We will be back soon» (»Wir kommen bald wieder»), sagte er in seiner Abschiedsrede auf Englisch.
SDA
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