Kampfpause im Gazastreifen Ist das der Weg zu einer längeren Waffenruhe – oder folgt die nächste Offensive?
Auf dem Höhepunkt des Kriegs waren bis zu 40’000 Soldaten im Einsatz. Nun zieht Israel einen Grossteil der Truppen zurück. Rechtsextreme Partner machen Druck auf Premier Benjamin Netanyahu.

Exakt sechs Monate nach Kriegsbeginn hat Israel überraschend seine Truppen aus dem südlichen Teil des Gazastreifens abgezogen. Dies sei keinesfalls als Signal für ein nahendes Ende der Kämpfe zu verstehen, beeilte sich Armeechef Herzl Halevi zu erklären. «Wir sind weit davon entfernt, aufzuhören.»
Zweifellos aber nimmt dieses Manöver deutlich den Druck vom aktuellen Kriegsgeschehen – und es öffnet reichlich Raum für Spekulationen: Soll damit einem neuen Abkommen zur Freilassung der Geiseln der Boden bereitet werden, über das gerade wieder in Kairo verhandelt wird? Oder ist dies doch nur eine Ruhepause vor dem seit langem schon angekündigten Sturm auf die letzte Hochburg der Hamas in Rafah?
Noch vier intakte Hamas-Brigaden in Rafah
Faktisch sorgt der Truppenrückzug dafür, dass die israelische Bodenoffensive im palästinensischen Küstenstreifen zumindest fürs Erste zum Stillstand kommt. Auf dem Höhepunkt der Kämpfe waren 30’000 bis 40’000 Soldaten im Einsatz. Schon Mitte Januar war ein Teil der Truppen aus dem Norden abgezogen worden. Nun verbleibt laut israelischer Armee allein noch eine Brigade dort, um den Korridor zu sichern, der den Gazastreifen in einen nördlichen und einen südlichen Teil zerschneidet.

Verteidigungsminister Joav Gallant begründete den Rückzug mit den erreichten militärischen Erfolgen. Die Hamas habe «im gesamten Gazastreifen aufgehört, als militärische Organisation zu funktionieren», erklärte er. Wenige Stunden nach dieser Äusserung musste er sich allerdings selbst korrigieren und auf die Lage in Rafah verweisen, wo noch vier intakte Hamas-Brigaden und die nach wie vor untergetauchte Führung der Terrorgruppe vermutet werden. Die abgezogenen Truppen würden sich nun auf zukünftige Einsätze – einschliesslich solcher in Rafah – vorbereiten, schob Gallant nach.
Ein baldiger Angriff auf Rafah wird seit Wochen vor allem von Premierminister Benjamin Netanyahu propagiert. Heftiger Widerstand dagegen kommt jedoch von Israels Verbündeten, allen voran aus den USA, wegen der Gefahren einer solchen Offensive für die Zivilbevölkerung. Rund 1,4 der insgesamt 2,2 Millionen Bewohner des Gazastreifens haben in Rafah Zuflucht gesucht.

US-Präsident Joe Biden hatte vorige Woche in einem Telefonat mit Netanyahu deutlich gemacht, dass die weitere Washingtoner Unterstützung von konkreten Veränderungen der israelischen Kriegsführung abhänge. Umgehend war danach mehr humanitäre Hilfe für den Gazastreifen erlaubt worden. Spekuliert wird nun, dass auch der Truppenrückzug eine Reaktion auf Druck aus den USA sein könnte.
Welch heikles Thema das innenpolitisch in Israel ist, zeigte sich sogleich am Montag, als Netanyahus rechtsextreme Koalitionspartner auf den Truppenrückzug mit Drohungen reagierten. «Wenn der Premierminister entscheiden sollte, den Krieg zu beenden ohne einen breiten Angriff auf Rafah, wird er kein Mandat mehr haben, weiter zu amtieren», erklärte Polizeiminister Itamar Ben-Gvir.
Verhandlungen in Kairo
Planlos und getrieben möchte in Israel aber weder die politische noch die militärische Führung erscheinen. Armeechef Halevi hat deshalb den Truppenrückzug mit einer neuen Prioritätensetzung erklärt. Gegen Rafah und die dortige Hamas-Führung könne man später immer noch erfolgreich vorgehen, argumentierte er. «Vordringlich und wichtig, mit einem anderen Zeitfenster als andere Ziele», sei es nun aber, die israelischen Geiseln heimzuholen.
Aus den dazu in Kairo geführten Verhandlungen werden indes unterschiedliche Signale gesendet. Unter Berufung auf Regierungsquellen meldete ein ägyptischer TV-Sender bereits eine Einigung über alle grundlegenden Punkte. Auch Israels Aussenminister Israel Katz zeigte sich im Armeeradio optimistisch. Wenn alles gut laufe, könne eine grosse Zahl von Geiseln befreit werden. Die Hamas jedoch dämpfte die Hoffnungen mit der Erklärung, es sei noch kein Fortschritt erzielt worden.
133 Geiseln sind noch immer in den Händen der Hamas. 34 von ihnen sind inzwischen von der israelischen Armee bereits offiziell für tot erklärt worden. Befürchtet wird, dass die Zahl noch deutlich höher liegt. Die Zeit drängt also. Verhandelt wird über einen Stufenplan, bei dem im ersten Schritt während einer rund sechswöchigen Waffenruhe 40 Geiseln gegen palästinensische Häftlinge ausgetauscht werden sollen. Weitere Freilassungen könnten nach ähnlichen Vorgaben folgen.
In jedem Fall aber könnte die Hamas den nun vollzogenen israelischen Truppenrückzug nutzen, um während einer Waffenruhe ihre Machtstellung im Gazastreifen wieder zu festigen. Offen bleibt dagegen, wie und ob Israel bei einem erfolgreichen Abschluss von Geiselverhandlungen nach einer längeren Pause den Krieg wieder aufnehmen kann.
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