Massenpanik nach ReligionsfestIsrael versinkt in Schock und Trauer
Zum Freudenfest des Lag Baomer versammelten sich 100’000 meist ultraorthodoxe Israelis im Norden des Landes. Es endete in der schlimmsten Katastrophe, die das Land in Friedenszeiten erlebt hat.
Ein schwarzer Hut, der zerbeult im Dreck liegt, verbogene Brillengestelle, Kinderschuhe, und dann die Leichen, eingehüllt in Decken oder Plastiksäcke – das sind die Bilder, die Zeugnis ablegen von der Katastrophe am Berg Meron. Zum Freudenfest des Lag Baomer hatten sich etwa 100’000 meist ultraorthodoxe Israelis an der Pilgerstätte im Norden des Landes versammelt. Es endete in der schlimmsten Katastrophe, die das Land in Friedenszeiten je getroffen hat. Bei einer Massenpanik kamen mindestens 44 Menschen ums Leben, darunter auch Kinder. Rund 150 weitere wurden verletzt. Israel versinkt in Schock und Trauer.
Was für eine fiebrige Aufregung war es gewesen schon in der Vorbereitung. Im vorigen Jahr hatten die Feierlichkeiten wegen der Corona-Pandemie nur sehr eingeschränkt stattfinden können. Auch in diesem Jahr hatten die Gesundheitsbehörden trotz der hohen Impfrate in Israel gewarnt, dass bei einer solchen Massenveranstaltung die Gefahr gross sei, dass es zu einem Wiederaufflammen der Pandemie kommen könne. An andere Gefahren hatte wohl niemand gedacht.
Strenge Regeln für die Zusammenkunft waren jedenfalls nicht mehr durchzusetzen. Lediglich eine Begrenzung der Teilnehmerzahl auf 10’000 Menschen war verfügt worden. Doch das stand bloss auf dem Papier. Überall im Land machten sich die Frommen auf zum Berg Meron für eine Nacht der Gebete, des Tanzes und der riesigen Lagerfeuer. Wie die Tradition verlangt, gedachten sie am Lag Baomer, dem Freudenfest des Gerechten, des jüdischen Aufstands gegen die römischen Besatzer unter Rebellenführer Bar Kokhba anno 132. Sie drängten zum Grab des Rabbis Shimon Bar Yochai, der an diesem Aufstand beteiligt war und am Berg seine letzte Ruhestätte fand.
Nackte Angst, pures Chaos
Auf ersten Videos von dieser Nacht ist eine ekstatisch tanzende Männermenge zu sehen, denn natürlich feiern die Geschlechter auch an diesem Tag getrennt. Von vorn auf der Bühne erschallt laute Musik, das Publikum erscheint als Meer in Schwarz und Weiss. Und dann die Videos von den Ereignissen kurz darauf: Menschen, die verzweifelt hin und her rennen. Wellblech-Trennwände, die eingerissen werden. Die nackte Angst ist zu spüren, das pure Chaos.
Nach dem, was bislang zum Hergang der Katastrophe bekannt ist, wollte sich gegen ein Uhr in der Nacht eine grosse Menschenmenge nach einer Aufführung aus dem Konzertgelände zurückziehen. Zum Ausgang ging es eingepfercht über eine abschüssige Rampe mit Metallboden. Die Ersten gerieten ins Rutschen, ins Stolpern, sie rissen andere mit, es kam zur grossen Welle, zum fatalen Dominoeffekt.
«Wir haben kleine Kinder gesehen, die erdrückt wurden.»
Augenzeugen berichten von «Toten, die überall herumlagen». Einer der Rettungskräfte sagte: «Wir haben kleine Kinder gesehen, die erdrückt wurden.» Hinterher irrten noch Dutzende durchs Gelände und suchten nach Angehörigen. Das Handynetz brach zusammen. Kinder wurden aufgelesen, die von ihren Eltern getrennt wurden. Und mitten im Tumult, so berichtet es die Polizei, gab es immer noch ein paar, die nicht weichen und weiter beten wollten und es sogar auf eine Konfrontation mit den Sicherheitskräften ankommen liessen.
Die Katastrophe erinnert an die Ereignisse bei der Love Parade 2010 in Duisburg, wo bei einem Gedränge 21 Menschen starben. Auch in Israel kam es vor einigen Jahren schon zu einer Massenpanik bei einer überfüllten ultraorthodoxen Beerdigung. Doch das Grauen vom Berg Meron lässt nun erst einmal alle hilflos und ratlos zurück.
Die vielen Verletzten wurden teils per Helikopter auf die Spitäler des Landes verteilt. Die nationale Hilfsorganisation Magen David Adom (Roter Schild Davids) rief die Israelis zu Blutspenden auf. Auch Rettungskräfte der Armee wurden in den Einsatz geschickt. Und rund um den Berg Meron waren Zehntausende gestrandet, die im Laufe des Tages mit Sonderzügen und 300 eigens in den Norden geschickten Bussen nach Hause gebracht werden sollten.
Tief erschüttert zeigten sich die Politiker in Jerusalem. Präsident Reuven Rivlin schrieb bei Twitter, er bete für die Genesung der Verletzten. Premierminister Benjamin Netanyahu eilte noch am Freitagmorgen zum Unglücksort, sprach den Angehörigen der Opfer sein Mitgefühl aus und sicherte den Helfern jegliche Unterstützung zu. Solidaritätsadressen kamen schnell aus aller Welt.
Schwere Vorwürfe an die Polizei
In die Trauer mischte sich aber bereits die Wut. Die Polizei, die mit insgesamt 5000 Männern und Frauen im Dienst war, sieht sich schweren Vorwürfen ausgesetzt. Trotz Überfüllung soll sie nicht verhindert haben, dass immer noch weitere Pilger aufs Gelände drängten. Zudem berichten manche Augenzeugen, die Polizei habe nach Ausbruch der Panik einen Ausgang blockiert und damit die Katastrophe angeheizt.
Der für die Nordregion zuständige Polizeikommandeur Shimon Lavi übernahm bereits öffentlich die Verantwortung, verwies aber darauf, dass seine Einsatzkräfte versucht hätten, Leben zu retten. Ermittlungen wurden aufgenommen, eine unabhängige staatliche Untersuchungskommission wird gefordert. Unter dieser Katastrophe wird Israel noch lange leiden.
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