Dutzende Tote bei Massenpanik in Israel«Wir sahen, wie die Leute nach vorne drängten»
An einem Wallfahrtsort im Norden Israels ist es zu einer Massenpanik gekommen. Im Gedränge wurden mindestens 45 Pilger getötet und über 100 verletzt.
Bei einer Massenpanik auf einem jüdischen Fest im Norden Israels sind nach offiziellen Angaben mindestens 45 Menschen ums Leben gekommen. Rund 150 weitere wurden nach Angaben der Rettungskräfte in dem Wallfahrtsort Meron zum Teil schwer verletzt.
Noch Stunden nach der tödlichen Massenpanik auf dem Meron-Berg im Norden Israels sind Rettungskräfte mit der Identifizierung der Leichen beschäftigt. Immer wieder versuchen verzweifelte Angehörige, die Opfer zu erreichen. «Die Handys der Toten hören nicht auf zu klingeln», erzählt ein Sanitäter am Freitag dem Armeesender. Als Anrufer werden auf dem Display «Mama» oder «Meine liebe Ehefrau» angezeigt.
Es wurde damit gerechnet, dass viele der Opfer noch im Verlauf des Tages – vor Beginn des jüdischen Ruhetages Sabbat – begraben werden.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Mitarbeiter von Rettungsdiensten sind normalerweise hartgesotten. Doch die dramatischen Ereignisse auf dem Meron-Berg im Norden Israels bringen selbst Profis an die Grenzen des Ertragbaren. Ein Sprecher des israelischen Rettungsdienstes Zaka sprach am Freitag von einer «nationale Katastrophe». «Es ist ein unerträgliches Ereignis», sagte Motti Buckchin der israelischen Nachrichtenseite «ynet». «44 Menschen, die Freude erleben wollten, und die in Leichensäcken zurückkommen», sagte er. «44 Familien, für die eine Welt zusammenbricht. Wir können jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.»
Tausende – vor allem Ultraorthodoxe – hatten am Donnerstagabend auf dem Meron-Berg den jüdischen Feiertag Lag Baomer begangen. Die Behörden hatten die Teilnehmerzahl auf 10’000 begrenzt, nach Medienberichten reisten aber bis zu zehnmal mehr Menschen an. In sozialen Netzwerken war vor dem Unglück in Videos zu sehen, wie die Menschen dicht gedrängt und ausgelassen sangen, tanzten und hüpften.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Doch tief in der Nacht bricht plötzlich Panik aus. Nach ersten Erkenntnissen sind auf einer abschüssigen Rampe mit Metallboden und Wellblechwänden auf beiden Seiten Menschen ins Rutschen gekommen. Die dicht gedrängten Feiernden fallen übereinander, die Situation gerät völlig ausser Kontrolle. Hinzu kommt: Notfalltüren lassen sich offenbar nicht öffnen. (Lesen Sie dazu auch: Wie kam es zur Massenpanik? Augenzeugen berichten)
«Nach und nach sahen wir, wie die Menschen zertrampelt wurden», schilderte der Augenzeuge Yehoshua. «Wir waren im hinteren Bereich, als alle begannen, nach vorne zu gehen. Wir sahen, wie die Leute sich nach vorne drängten.» Er selbst habe sich anschliessend nach draussen begeben. «Dort sahen wir, wie die Menschen evakuiert und wiederbelebt wurden.»
Ein Verletzter im Rambam-Krankenhaus in Haifa erzählt, etwa 500 Menschen seien in einem Abschnitt eingepfercht gewesen, in dem normalerweise Platz für etwa 50 Menschen sei. «Unten in der ersten Reihe sind Menschen gefallen, und oben haben die Menschen dies nicht gesehen und sich weiter nach vorne gedrängt», erzählt der bärtige Mann. «Eine Reihe fiel auf die andere.»
Am Freitag wurden erste Vorwürfe gegen die Polizei laut. Sie habe Leute in das abgesperrte Areal gelassen, obwohl es schon extrem voll gewesen sei. Nach Beginn der Panik habe die Polizei dann nicht schnell genug Ausgänge auf der anderen Seite geöffnet, so die Kritik. Insgesamt waren rund 5000 Sicherheitskräfte im Einsatz.
Vor Ort herrschte Chaos
Der Rettungssanitäter Omri Hochman ist einer der ersten am Unglücksort. «Als wir ankamen, herrschte dort grosse Aufruhr, viele Menschen rannten in unsere Richtung», schildert er im Fernsehen. «Der Anblick war sehr schlimm, Dutzende Verletzte lagen nahe der Tribüne und auf der Rampe.» In sozialen Medien kursieren in der Nacht Bilder, auf denen Reihen von Leichensäcken zu sehen sind. Die Verletzten wurden in umliegende Krankenhäuser gebracht, einige auch per Rettungshelikopter.
Ein Fernsehreporter zeigt später Aufnahmen vom Ort des Unglücks. Zahlreiche Schuhe, Hüte, verbogene Brillen und Wasserflaschen liegen dort auf dem Boden und zeugen von den schrecklichen Ereignissen. Ein Sicherheitsgeländer ist im Gedränge aus dem Boden gerissen worden. Der Reporter demonstriert, wie rutschig der Metallboden auf der Rampe ist.
Die Polizei bricht nach dem Unglück die Feiern ab. Zehntausende versuchen anschliessend verzweifelt, den Ort zu verlassen. Kinder werden im Gewirr von ihren Eltern getrennt, besorgte Angehörige können ihre Liebsten nicht erreichen, weil das überlastete Handynetz zusammenbricht. Der Rettungseinsatz ist so schwierig, dass auch die Eliteeinheit 669 der israelischen Armee zu Hilfe gerufen wird.
Israels Präsident Reuven Rivlin schrieb bei Twitter, er verfolge die Berichte über die Tragödie und bete für die Genesung der Verletzten. Gesundheitsminister Juli Edelstein sprach von einer schrecklichen Katastrophe. Auch er sprach den Hinterbliebenen sein Mitgefühl aus und dankte den Rettungskräften für ihre Arbeit.
Regierungschef Benjamin Netanyahu zeigte sich bestürzt über das «schwere Unglück» und kündigte für Sonntag einen nationalen Trauertag an. Es handele sich um eine der grössten Katastrophen des Staates Israel, es habe «herzzerreissende Szenen» gegeben.
«Es wurden Menschen zu Tode gequetscht, darunter auch Kinder», berichtete Netanyahu nach einem Besuch am Ort der Tragödie. Der 71-Jährige kündigte eine umfassende Untersuchung. Eine solche Tragödie dürfe sich nicht wiederholen.
Feier letztes Jahr stark eingeschränkt
Lag Baomer ist ein Fest, bei dem unter anderem an den jüdischen Aufstand gegen die römischen Besatzer unter Rebellenführer Bar Kochba erinnert wird. Er war im Jahre 132 ausgebrochen und rund drei Jahre später niedergeschlagen worden. Der Überlieferung nach endete an dem Tag von Lag Baomer eine Epidemie, an der damals zahlreiche jüdische Religionsschüler gestorben waren.
Rabbi Schimon Bar Jochai, der auch an dem Aufstand gegen die Römer beteiligt war, liegt auf dem Meron-Berg begraben. Sein Grab ist ein Wallfahrtsort, den an dem Feiertag jedes Jahr Tausende besuchen. Traditionell werden dann auch Lagerfeuer angezündet. Im vergangenen Jahr waren die Feiern wegen der Corona-Pandemie stark eingeschränkt worden, doch inzwischen sind die Infektionszahlen deutlich gesunken und die Regeln wieder gelockert worden.
/
Fehler gefunden?Jetzt melden.