Analyse zur Lage in RafahDie Menschen sind ihnen anscheinend egal
Israel und die Hamas hätten es in Rafah in der Hand, den Tod von Zivilisten zu vermeiden. Aber sie ignorieren das Völkerrecht und dessen Regeln für Armeen.
Es versteht sich von selbst, dass das israelische Militär es in der Hand hätte, sofort den Beschuss von Zielen im Gazastreifen zu beenden. Das heisst: sofort zu bewirken, dass weniger Menschen sterben. Es ist offensichtlich, man hört es derzeit überall, kürzlich vom EU-Aussenbeauftragten, Josep Borrell, zuletzt auch vom niederländischen Gerichtshof, dem Berufungsgericht des Landes in Den Haag. Dieses verfügte sogar einen Ausfuhrstopp für Teile von F-35-Kampfjets nach Israel. Weil man befürchten müsse, dass Israel damit Kriegsverbrechen begehen würde: eine unterschiedslose Attacke auf Zivilistinnen und Zivilisten, die nirgendwohin mehr fliehen können.
Der Appell, den das Völkerrecht an Israel richtet, ist längst klar. Während sich in dem kleinen Ort Rafah im Süden von Gaza mehr als eine Million Geflüchtete zusammendrängen, weil ihre Wohngebiete bereits ganz oder teilweise zerstört worden sind, ist Israel in der Pflicht, eine Evakuierungsmöglichkeit zu schaffen, bevor es auch dort zuschlägt.
So sind die Regeln, das wissen die Regierenden in Israel auch, das haben sie zu Beginn des Krieges im Norden von Gaza auch getan. Das hat ihnen erst kürzlich auch der Internationale Gerichtshof, ebenfalls in Den Haag, noch einmal schwarz auf weiss gegeben: Wenn Zivilisten in die Schusslinie geraten, dann muss man ihnen die Chance geben, herauszukommen. Was Israel ihnen bislang anbietet, ist keine solche reelle Chance.
Was die Hamas tun könnte
Aber natürlich hätte auch die Hamas es in der Hand, sofort zu bewirken, dass nicht noch mehr Menschen sterben. Das hört man derzeit nicht ganz so oft. Es wird international kaum noch ausgesprochen, auch im Westen nicht – vielleicht, weil man ohnehin kaum unterstellt, dass die Hamas für solche Appelle empfänglich sei.
Die Lage ist auch hier klar: Die Hamas könnte sofort verkünden, dass sie die Waffen streckt, dass sie keine Chance mehr sieht, diesen Krieg noch zu gewinnen. Ihre Kämpfer könnten sich, wie eine konventionelle Armee es tun würde, in Kriegsgefangenschaft begeben, unter Aufsicht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Würde das israelische Militär, das stets betont, es nur auf diese Kämpfer abgesehen zu haben, seine Bombardements beenden? Wahrscheinlich ja.
Oder, zweitens: Die Hamas könnte, nein, sie müsste schon längst auch einem grundlegenden Appell des Völkerrechts nachkommen, der rechtlich kein bisschen weniger dringend und zwingend ist als der Appell an Israel, für die Zivilisten in Rafah Evakuierungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Hamas müsste Rafah verlassen, unverzüglich.
Die vier Bataillone der Hamas, die sich – nach israelischen Angaben – in Rafah verschanzt halten, inmitten von Kindern, Alten, Geflüchteten: Sie handeln wider jedes Völkerrecht und beschwören damit auch noch an diesem Ort der letzten Zuflucht die Hölle auf Erden herauf. Die Hamas-Kämpfer müssten sich von der Zivilbevölkerung separieren, müssten in Kasernen schlafen, müssten sichtbar machen, dass sie Kombattanten sind. Damit nur sie das Feuer abbekommen – nicht die Geflüchteten.
Im Völkerrecht spricht man vom Unterscheidungsgebot, das Prinzip ist eminent wichtig: Alle Kriegsparteien sind verpflichtet, von der Zivilbevölkerung Abstand zu halten, um diese nicht mit hineinzuziehen ins Inferno. In Gaza sieht man, mit welchen entsetzlichen Folgen dies ignoriert wird.
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