Einordnung nach Tod des Präsidenten Steht der Iran vor einer grossen Krise?
Nach Ebrahim Raisis Tod muss Teheran die Nachfolge regeln. Die Hardliner sind unbeliebt und schützen sich mit allen Mitteln. Und doch bietet der Übergang eine Chance auf Wandel.
Noch bevor die Suchmannschaften in den Bergen der Provinz Ost-Aserbaidschan das Wrack des Helikopters von Präsident Ebrahim Raisi gefunden hatten, hatte der Oberste Führer des Iran, Ayatollah Ali Khamenei, am Sonntagabend die Staatsmedien eine Botschaft verbreiten lassen: «Es wird keine Unterbrechung der Regierungsgeschäfte geben», versicherte der mächtigste Mann im politischen System der Islamischen Republik.
Tatsächlich sieht Artikel 131 der Verfassung eine Regelung vor, sollte der Präsident im Amt sterben: Der Erste Vizepräsident, Mohammad Mokhber (68), übernimmt die Amtsgeschäfte des Regierungschefs und bildet zusammen mit dem Sprecher des Parlaments und dem Chef der Justiz, ebenfalls ein Religionsgelehrter, ein Gremium, das binnen fünfzig Tagen Wahlen organisiert.
Als Nachfolger aufgebaut
Doch das formale Verfahren greift zu kurz als Antwort auf die Frage, was der Tod von Ebrahim Raisi und mit ihm des Aussenministers Hossein Amir-Abdollahian für das Regime in Teheran bedeutet. Khamenei, der als Oberster Führer die Richtlinien der Politik bestimmt, nicht zuletzt in allen Fragen der Aussen- und Sicherheitspolitik, hatte den 63 Jahre alten Raisi über Jahre hinweg zum potenziellen Nachfolger seiner selbst aufgebaut.
Khamenei ist im April 85 Jahre alt geworden und hat immer wieder mit Gesundheitsproblemen zu kämpfen. 2014 musste er sich einer Prostata-Operation unterziehen, mutmasslich wegen einer Krebserkrankung. Vor zwei Jahren löste eine längere Abwesenheit von öffentlichen Terminen Spekulationen über eine schwere Krankheit aus.
Leitendes Prinzip für Khamenei ist, den Geist der Islamischen Revolution von 1979 zu bewahren – und Raisi galt nicht nur ideologisch als linientreu; seine Biografie prädestinierte ihn für diese Rolle. Er hat an der Revolution als 18-Jähriger teilgenommen und gehörte damit der letzten Generation von Funktionären an, die den Umsturz noch aktiv erlebt haben. Zudem stieg er schnell auf in der Justiz des neuen islamischen Systems, und er war an der Ermordung Tausender Regimegegner beteiligt.
Hardliner und Generalstaatsanwalt
Schon als Raisi 2017 bei der Präsidentenwahl gegen Amtsinhaber Hassan Rohani, einen pragmatischen Konservativen, deutlich unterlag, galt der Hardliner und frühere Generalstaatsanwalt als Favorit des Obersten Führers. In den folgenden Jahren marginalisierte Khamenei über den von ihm kontrollierten iranischen Wächterrat alle anderen politischen Strömungen des Regimes. Bei der Präsidentenwahl 2021 liess der Rat alle Mitbewerber, die Raisi hätten gefährlich werden können, erst gar nicht zu.
Die Folge war zwar ein massiver Verlust an Legitimität des politischen Systems. Schon bei der Präsidentenwahl 2021 brach die Wahlbeteiligung, vom Regime selbst als Gradmesser für den Rückhalt ausgegeben, auf 48,5 Prozent ein. Vier Jahre zuvor waren es noch 73,3 Prozent gewesen. Bei der Parlamentswahl im März gaben sogar nur noch 40,6 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Zugleich aber hat Khamenei in allen wichtigen Bereichen der Politik seinen ultrakonservativen Kurs konsolidiert.
Raisi schickte die Moralpolizei auf die Strassen zurück, die Frauen verprügelt, wenn diese sich nicht gemäss den Kleidervorschriften bedecken. Die junge Kurdin Jina Mahsa Amini starb im September 2022 nach Misshandlungen auf einem Polizeirevier in Teheran. Der Fall löste landesweit Proteste aus.
Die Repression im Iran hält bis heute an
Da sich so viele verschiedene gesellschaftliche Gruppen beteiligten, wurden die Demonstrationen zur grössten Herausforderung für das Regime seit der Grünen Revolution – jenen Protesten also, nach denen Mahmud Ahmadinejad 2009 zum zweiten Mal zum Präsidenten erklärt worden war. Monatelang antwortete die Führung mit brutaler Gewalt; die Repression hält bis heute an. Im vorigen Jahr liess der Iran mehr als 800 Menschen hinrichten – so viel wie kein anderes Land ausser China.
Aussenpolitisch war das Regime zwar auf einen gewissen Ausgleich mit den arabischen Golfstaaten bedacht, wobei Aussenminister Amir-Abdollahian eine Rolle spielte – er sprach Arabisch. In den vergangenen Wochen gab es indirekte Gespräche zwischen dem Iran und den USA, vermittelt von Oman, um zu verhindern, dass es zu einem umfassenden Krieg im Nahen Osten kommt.
Zugleich flochten die iranischen Revolutionsgarden, die direkt Khamenei unterstellte militärische Elite, ihr Netz von verbündeten Milizen in der Region immer enger. Dazu gehören die Hizbollah im Libanon, die Huthi im Jemen, schiitische Gruppen im Irak und in Syrien bis zu den sunnitischen Palästinensergruppen Islamischer Jihad und Hamas im Gazastreifen, die am 7. Oktober Israel mit Terror überzogen.
Wird Mohammed Baqer Qalibaf neuer Präsident?
Die Revolutionsgarden festigten zudem ihren Zugriff auf die Wirtschaft des Landes und Teile des politischen Systems. Auch liess Khamenei den Ausbau des Atomprogramms bis nahe an die Schwelle zur Nuklearwaffenfähigkeit vorantreiben. Es ist kaum damit zu rechnen, dass sich an diesen Konstanten der Politik des Regimes etwas ändert nach dem Tod Raisis.
Als potenzieller Nachfolger wird unter anderen Mohammed Baqer Qalibaf gehandelt, der Sprecher des Parlaments. Er war schon Kommandant der Luftwaffe der Revolutionsgarden, Polizeichef des Landes und Oberbürgermeister von Teheran. Allerdings gab es gegen ihn immer wieder Korruptionsvorwürfe. Übergangspräsident Mokhber gilt als Vertrauter Khameneis, es ist aber unklar, ob er eine Kandidatur anstrebt. Bekannt ist er im Iran kaum.
Zugleich stellt sich nach Raisis Tod wieder die Frage, wer Khamenei beerben könnte an der Spitze der Islamischen Republik, sollte er sterben oder sein Amt nicht mehr ausüben können. Wie zentral dessen Rolle ist, hat sich jüngst wieder gezeigt: Es war Khamenei persönlich, der den direkten Angriff auf Israel genehmigte, nachdem die israelische Luftwaffe bei einem Angriff in Damaskus mehrere Generäle der Revolutionsgarden getötet hatte.
88 Kleriker entscheiden
In der Verfassung gibt es auch hierfür ein Verfahren: Die Expertenversammlung, ein Gremium aus 88 schiitischen Klerikern, müsste seinen Nachfolger bestimmen. Deren Mitglieder sind zugleich mit dem Parlament für acht Jahre gewählt worden. Allerdings hat Khamenei sichergestellt, dass der Wächterrat nur Konservative zulässt, die sich ihm beugen. Aussortiert wurde so unter anderen Hassan Rohani, der acht Jahre lang Präsident war und zwei Wahlperioden Mitglied der Versammlung.
Im Iran wird spekuliert, dass Khameneis Sohn Mojtaba (54) anstrebt, seinem Vater in der Position des Obersten Rechtsgelehrten nachzufolgen, wie der Oberste Führer offiziell heisst. Umstritten ist, ob der Schüler des 2021 verstorbenen Ayatollah Taghi Mesbah Yazdi, des Chefideologen der Ultrakonservativen, die Anforderungen als islamischer Gelehrter erfüllt. Um Ali Khamenei ins Amt zu verhelfen, wurde damals auf den Status eines Grossayatollahs verzichtet, der von der Anerkennung durch die anderen schiitischen Gelehrten dieses höchsten Ranges abhängt.
Enge Verbindungen zum Geheimdienstapparat
Politisch gilt Mojtaba Khamenei aber als eine der einflussreichsten Personen im Büro des Obersten Führers, dem für Aussenstehende weitgehend undurchsichtigen Zentrum der Macht in der Islamischen Republik. Er pflegt enge Verbindungen zum Geheimdienstapparat und zu den Revolutionsgarden, die allerdings selber zunehmend eine eigenständige politische Rolle für sich in Anspruch nehmen. Allerdings ist unklar, ob andere Akteure im Regime eine dynastische Nachfolgeregelung mitmachen würden.
Auch neuerliche Massenproteste gelten als denkbares Szenario, denn das Leben der Menschen im Iran wird von Jahr zu Jahr schwieriger: Die Wirtschaft steht am Rande des Zusammenbruchs, die Inflation ist immens, die Repression wird immer härter. Und der Übergang könnte für Jahrzehnte die beste Chance bieten, einen grundlegenden Wandel herbeizuführen. Gerade deshalb hat Khamenei so viel dafür getan, sein Vermächtnis abzusichern.
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