Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Flüchtlingshelfer Lucano verurteilt
«Innerlich bin ich gerade gestorben»

Vom Wohltäter zum angeblichen Halbmafioso: Mimmo Lucano nach seiner Verurteilung in erster Instanz vor dem Gericht in Locri. 
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Ein Gerichtsurteil kommentiert man nicht, sagen die Italiener, als wäre das Wort eines Richters sakrosankt. Das ist es natürlich nicht, und so wird dann doch fast immer genüsslich kommentiert. Doch selten gab ein Urteilsspruch so viel zu reden wie der im Fall von Domenico «Mimmo» Lucano, dem früheren Bürgermeister der kleinen und weltberühmt gewordenen Gemeinde Riace in Kalabrien, 63 Jahre alt.

Alle debattieren mit, Politiker, Intellektuelle, linke und rechte Richter, aufgebrachte Freunde Lucanos und schadenfreudige Gegner. Vor ein paar Tagen hat das Tribunal von Locri den linken Aktivisten und Begründer des «Modello Riace», des einst gefeierten Integrationsmodells, in erster Instanz zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt.

Beim Verlassen des Gerichts sagte Lucano: «Innerlich bin ich gerade gestorben.» Er habe sein Leben den Schwächsten gewidmet, dem Kampf für Solidarität und gegen die Mafia. «Und jetzt verurteilt man mich, als wäre ich ein Mafioso.»

Am Ende geht es in dieser Geschichte auch um die Frage: Was ist wichtiger, Recht oder Gerechtigkeit?

Alles Böse wirft man ihm vor: Bildung einer kriminellen Vereinigung, Amtsmissbrauch, Betrug, Erpressung, illegale Bieterabsprache, Veruntreuung öffentlichen Geldes und Begünstigung illegaler Einwanderung. Erstaunlich auch: Das Strafmass der Richter ist fast zweimal so hoch wie die Forderung der Staatsanwaltschaft, die hatte sieben Jahre und elf Monate beantragt.

Lucanos Strafverteidiger, der frühere Mailänder Bürgermeister und Anwalt Giuliano Pisapia, sprach von einem Urteil «vom Mond», es stehe im totalen Kontrast zu allen Erkenntnissen aus dem zweijährigen Prozess. Man warte nun die Urteilsbegründung ab, dann werde man Berufung einlegen. In Italien gibt es drei Gerichtsinstanzen, da kann also noch viel passieren. Doch Lucano sagt, den Makel des Urteils werde er nie mehr loswerden. «Ich hatte mich auf einen Freispruch eingestellt.»

Am Ende geht es in dieser Geschichte auch um ein altes Dilemma der Menschheit: Was ist wichtiger, Recht oder Gerechtigkeit? Das Gesetz mit allen seinen Paragrafen und Kommata oder der grosse moralische Imperativ?

Riace lebte wieder. Und Lucano nannte man fortan «Mimmo u curdu», Mimmo der Kurde.

1998 ist Riace am Ionischen Meer ein ausgestorbenes Dorf, wie es viele gibt im Süden, ausgezehrt von wirtschaftlicher und sozialer Perspektivlosigkeit. Über die Jahre waren viele in den Norden und ins Ausland gezogen, um Arbeit zu finden. Der untere Teil von Riace, der an der Küste, füllte sich im Sommer jeweils mit Touristen, der obere, Riace Superiore, zerfiel langsam vor sich her.

In jenem Jahr setzten kurdische Flüchtlinge aus der Türkei rüber nach Kalabrien, einmal landete ein Segelboot mit 66 Männern, 46 Frauen und 72 Kindern in Riace. Mimmo Lucano, damals noch Aktivist, schlug vor, dass man sie aufnehme, ihnen ein Zuhause gebe. Fortan sollte man ihn «Mimmo u curdu» nennen, kalabrisch für Mimmo der Kurde.

Lucanos Idee ging so: Integriert man die Zuwanderer, gibt man ihnen eine Wohnung, einen Job als Bäckerin, Kellner, Töpfer, Schneiderin, eine würdevolle Existenz eben, dann bringen sie Leben ins sterbende Dorf, kurbeln die Wirtschaft an, stiften Zukunft. Er telefonierte mit den Weggezogenen und fragte sie, ob sie ihre verlassenen, zumeist heruntergekommenen Häuser für den Plan hergeben würden – als Leihgabe für eine gewisse Zeit. Die Zuwanderer würden sie renovieren. Alle sagten zu.

Weltdorf und Integrationsmodell: Riace wuchs dank den Zuwanderern, sie füllten es mit Leben. Nun hat sich der Ort wieder geleert. 

Und so wuchs die Gemeinde, die keine 2000 Einwohner mehr hatte, um 600 neue Bewohner. Ein Weltdorf. Anstelle eines Tagesgeldes erhielten die Zugewanderten Gutscheine, die sie nur in den Geschäften von Riace einlösen durften. Das Experiment war ein grosser Erfolg, ein Gewinn für Einheimische und für Zugezogene.

Riace lebte wieder. 2004 wurde Lucano, der knorrige Mann mit dem sturen Kopf und dem grossen Herzen, zum ersten Mal zum Bürgermeister gewählt. Zweimal sollte er danach im Amt bestätigt werden, mit steigender Gunst. Nach den Kurden kamen Menschen aus Nordafrika, Schwarzafrika und Asien.

Er wurde zum Star, der Papst lud ihn zu sich

Zeitungen schickten Reporter nach Riace, damit sie das glückliche Modell beschrieben. 2009 drehte Wim Wenders einen Kurzfilm darüber: «Il volo» wurde an vielen internationalen Festivals gezeigt. Der Papst lud Lucano zu sich in den Vatikan ein, und das Magazin «Forbes» zählte ihn 2015 zu den 50 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt.

Doch da drehte der Wind schon. In jenen Jahren mehrten sich die Überfahrten auf der Route im zentralen Mittelmeer markant, und die Italiener fühlten sich alleingelassen von den Partnerstaaten in der Europäischen Union.

2017 begannen Inspektoren und Ermittler damit, etwas näher hinzuschauen beim «Modell Riace». Sie sezierten die Buchhaltung, rechneten nach, studierten Ausschreibungen, hörten auch Telefonate ab. Dabei kam heraus, dass es Lucano nicht so genau nahm mit den Regeln. Er stand auch dazu, ihm sei das Schicksal der Menschen immer wichtiger gewesen als die Bürokratie und das Gesetz.

Für sich nahm er nichts, keinen Euro

Für sich nahm er nichts, keinen einzigen entwendeten Euro fanden die Ermittler. Aber Lucano winkte Häuser durch, obschon deren Papiere noch nicht in Ordnung waren, etwa das Zertifikat für die Statik. Den Mülltransport in Riace vergab er an die einzigen zwei Kooperativen im Dorf, die dafür infrage kamen, ohne den Auftrag auszuschreiben. Eine von ihnen arbeitete mit einem Esel. In drei Fällen soll er Scheinehen vermittelt haben, damit der zugewanderte Partner nicht ausgeliefert werden konnte, wobei der Plan zweimal nicht umgesetzt wurde.

2018 wurde Lucano zwischenzeitlich unter Hausarrest gestellt, er durfte den Boden seines Dorfes nicht mehr betreten. Plötzlich schlich sich in der öffentlichen Debatte eine maliziöse Note in das Urteil über Lucano, es hiess: War das am Ende alles gar nicht so gut, was er da in Riace schuf? Okay, vielleicht stahl er ja kein Geld, aber profitierte er nicht politisch von seinem System?

Das kleine Riace verkam zum Spielball der nationalen Politik, völlig überzogen.

Dann wurde Matteo Salvini von der rechten Lega italienischer Innenminister, und der beschimpfte Lucano einfach als «totale Null», als «Freund der Klandestinen», jeden Tag ein Angriff. Das kleine Riace verkam so zum Spielball der nationalen Politik, völlig überzogen – wie das Urteil gegen Mimmo Lucano.

Unterdessen verkümmert das schöne Modell, ohne Lucano funktioniert es nicht. Viele Werkstätten, in denen früher Zugewanderte arbeiteten, sind geschlossen, die Einwohnerzahl ist wieder auf das frühere Niveau geschrumpft. Was mit dem Esel passiert ist, ist nicht überliefert.