Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Pandemie in Asien
Indien befürchtet bis zu 200 Millionen Infizierte

Corona-Krise in Delhi: Bald könnte der Tag kommen, an dem sich selbst indische Eisenbahnwaggons mit Patienten füllen.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Nun müssen sogar Eisenbahnwaggons herhalten. Die Zahl der Covid-19-Fälle schnellt in der indischen Hauptstadt Delhi in die Höhe, sodass die Zentralregierung nun schon 500 Züge bereitgestellt hat, deren Abteile in Corona-Quartiere verwandelt werden sollen. Mahesh Misra, ehemaliger Leiter der Hochschule All India Institute of Medical Sciences (AIIM) in Delhi, hat allerdings Zweifel, ob die Waggons in dieser Jahreszeit geeignet sein werden, um kranke Menschen aufzunehmen. «Jetzt, wo die Hitze vor dem Monsun drückt, und es keine Klimaanlagen in den Waggons gibt, sollten sie nur eine allerletzte Notlösung sein», sagt Misra am Telefon.

Doch so wie sich die Corona-Krise derzeit in Delhi entwickelt, könnte der Tag bald kommen, an dem sich selbst indische Eisenbahnwaggons mit Patienten füllen. Forscher in Washington hatten Ende März Prognosen erstellt, wonach es im bald bevölkerungsreichsten Staat der Welt bis Ende Juli mehr als 300 Millionen Infizierte geben könnte. Der frühe Lockdown, den die Regierung im März verhängte, dürfte den Anstieg verzögert haben. Ramanan Laxminarayan, Direktor des «Center for Disease, Dynamics, Economics and Policy» (CDDEP) erklärt im Onlinemagazin «The Wire», wie sich «Indien damit Zeit gekauft hat». Dennoch rechnet der Wissenschaftler immer noch mit bis zu 200 Millionen Fällen bis September.

Junge Bevölkerung als Vorteil

Derzeit sind mehr als 360'000 Infizierte registriert, doch Indien hatte lange vergleichsweise wenig getestet. Nun ändert sich das, sodass die Zahl der bekannten Fälle womöglich auch deshalb stark in die Höhe schnellt. Zu Beginn der Krise in Indien zog vor allem die Küstenmetropole Mumbai viel Aufmerksamkeit auf sich, nun entwickelt sich Delhi mit seinen 19 Millionen Menschen zum Corona-Hotspot. Zwar rechnen Epidemiologen damit, dass Indien angesichts seiner sehr jungen Bevölkerung bessere Bedingungen als andere Länder hat, um die Krise zu überstehen. Die wenigsten Infizierten, sagt der Mediziner Misra, werden überhaupt ein Spital brauchen, sie werden das Virus ohne Hilfe überstehen. Dennoch könnte das lückenhafte indische Gesundheitssystem bald überfordert sein, um die schweren Fälle zu bewältigen – zumal in einer Stadt wie Delhi, wo nun, nach den Lockerungen des Lockdown, die Zahlen rasch steigen.

Der Geschäftsmann suchte verzweifelt einen Klinikplatz für seinen kranken älteren Bruder.

Vor Tagen schon warnte der Ministerpräsident des Grossraums Delhi, Arvind Kejriwal, dass seine Stadt in «grossen Schwierigkeiten» stecke. Die Prognosen, die er vortrug, klangen düster. Zu rechnen sei mit einem Anstieg der Infektionszahlen auf 550'000 in der Hauptstadt bis Ende Juli. Dann würde Delhi 80'000 Betten brauchen, für seine eigenen Bürger, und noch mal 70'000 für jene Covid-Patienten, die aus anderen Bundesstaaten stammen.

Warnt vor «grossen Schwierigkeiten»:  Arvind Kejriwal, Regierungschef des Grossraums Delhi.

Bislang hält die Hauptstadt etwas mehr als 8000 Plätze für Covid-Patienten bereit, davon soll etwa die Hälfte noch frei sein, hatte die Regierung kürzlich erklärt. Dennoch sind dies keine ermutigenden Aussichten, zumal indische Zeitungen schon Anfang Juni über Geschichten wie die von Vikas Jain berichteten: Der 45-jährige Geschäftsmann suchte verzweifelt einen Klinikplatz für seinen kranken älteren Bruder. Die ersten beiden Spitäler wiesen ihn ab, dort hiess es, sie hätten keine freien Betten. Im dritten wurde er aufgenommen, aber gleich wieder entlassen, als sein Corona-Test positiv ausfiel. Die Begründung lautete, man könne ihn nicht isolieren. Erst im fünften Spital endete die Odyssee für die Familie, hier wurde der Kranke schliesslich aufgenommen; doch zu diesem Zeitpunkt war sein Zustand schon so schlecht, dass er nicht mehr zu retten war. Zum Krematorium musste die Familie den Toten selbst bringen.

Gespenstische Atmosphäre

In Delhi gewinnen nun viele den Eindruck, dass der Ministerpräsident und sein Team die Lage vielleicht doch unterschätzt haben, weil es lange so aussah, als bliebe der Hauptstadt das Schlimmste erspart.
Der Ruf staatlicher Spitäler ist im Übrigen in ganz Indien miserabel. Patienten klagen über Schmutz, mangelnde Empathie, schlechte Ausstattung und zermürbende Wartezeiten. Das alles treibt jene, die es sich leisten können, in die privaten Kliniken, die 20 Prozent ihrer Kapazitäten für Covid-Fälle bereithalten sollen. Doch auch sie stossen rasch an ihre Grenzen.

Corona-Tests in Gurugram, eine Satellitenstadt der indischen Metropole Delhi.

Bewohner der Stadt, die dem Mittelstand angehören, beschreiben die Atmosphäre als «unheimlich» und «gespenstisch». Experte Mahesh Misra glaubt, dass die steigenden Zahlen vor allem damit zu tun haben, dass die Menschen nach dem Lockdown unvorsichtig waren. «In Delhi haben zu viele Leute alle Gebote, physische Distanz zu wahren, über den Haufen geworfen.» Er spricht von grossen Menschenansammlungen auf Märkten und Busbahnhöfen, als gäbe es die Corona-Warnungen gar nicht. Viele hätten gedacht, nach dem Lockdown wäre nun alles mehr oder weniger überstanden.

Gestrandete Wanderarbeiter

Aber danach sieht es nicht aus, obgleich die Ausgangssperren und die Folgen für viele Inder bereits eine extreme Belastung bedeuteten: vor allem für Millionen gestrandete Wanderarbeiter, die auf einen Schlag ohne Job dastanden und seither um ihre Existenz kämpfen. «Die ökonomischen Folgen in Indien waren bislang schlimmer als das Virus», sagt Misra. «Und viele Kleinunternehmer haben es schwer, ihre Geschäfte wieder in Gang zu bringen.»

Vom Innenminister der Zentralregierung, Amit Shah, war lange eher wenig zu hören, nun führt er viele Krisengespräche in Delhi. Debattiert wird, wie man mehr Plätze in privaten Spitälern für Covid-Patienten reservieren könnte, zu niedrigen Preisen. Es mehren sich die Klagen, dass die Behandlungen für die meisten gar nicht bezahlbar seien. Die Hoffnung, dass das Gesundheitssystem in der Hauptstadt in kurzer Zeit massgeblich verbessert werden kann, schwindet.