Himmlische GeschöpfeEngel waren nicht immer so lieblich
Der Glaube an die geflügelten Wesen ist uralt und kommt in vielen Religionen vor. Warum sie heute sehr beliebt sind – und wo sie ihre Ursprünge haben.
Können mehrere Engel auf einer Nadelspitze tanzen, ohne einander anzurempeln, fragte ein französischer Denker im 16. Jahrhundert und sprach dabei gleich zwei Fragen an, die es zu diesen Wesen gibt: Was sind Engel, und haben sie einen Körper? In der Weihnachtszeit sieht man überall Engel-Darstellungen. Sie hängen am Weihnachtsbaum, liegen in Guetsliform auf dem Teller, flattern durch Kinderbücher oder sind auf Geschenkpapier gedruckt. Was weiss man über Engel? Die wichtigsten Antworten aus der Forschung:
Wann in der Geschichte tauchen Engel auf?
Der Glaube an Engel geht Jahrtausende zurück und ist in vielen Kulturen und Religionen vorhanden. Einen prominenten Auftritt haben die geflügelten Wesen in den monotheistischen Religionen, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam. In den Schöpfungsgeschichten dieser Religionen treten mehrmals Engel auf, meist um Botschaften Gottes zu verkünden. So erscheinen Abraham, der in allen drei Glaubenssystemen als wichtige Figur gilt, in der Genesis beispielsweise mehrere Engel. Die Engel haben manchmal spektakuläre Auftritte. So heisst es im Buch Ezechiel 1,4: «Ein Sturmwind kam von Norden, eine grosse Wolke mit flackerndem Feuer, umgeben von einem hellen Schein», und dann erscheinen vier Engel.
Es gibt noch ältere Engelsfiguren aus altorientalischen Religionen, die aus dem zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung stammen. Mit unseren heutigen Engel-Vorstellungen haben diese Gestalten wenig zu tun. Es sind geflügelte Wächterwesen, mit Löwenkörper und Menschengesicht, man nennt sie Cherubim. Auch in Europa reicht der Glaube an Engel sehr weit zurück.
Was haben Engel mit Geistern zu tun?
Nicht nur im Mittelmeerraum und im Orient hat der Engel-Glaube seine Wurzeln, sondern auch in prähistorischen Kulturen und in jenen Teilen Mittel- und Nordeuropas, in die sich das Römische Reich nicht ausdehnte. Dort glaubten die Menschen lange an eine beseelte Natur und an die Geister der Ahnen. «Dieser Geister- und Ahnenglaube gilt ebenfalls als einer der Vorläufer des Glaubens an Engel», sagt Johann Hafner, Professor für Religionswissenschaft und Engel-Experte von der Universität Potsdam. Nicht alle Ahnen waren gleichbedeutend, einzelne kristallisierten sich zu wichtigeren Figuren heraus.
Welche Aufgaben haben Engel?
Unser Wort für Engel kommt aus dem Altgriechischen. Angelos heisst Bote oder Abgesandter, was einiges über die Aufgaben von Engeln verrät. Sie überbringen Botschaften von Gott an die Menschen. In der Geschichte des Abraham sind es die Engel, die Abraham, seiner Frau Sarah und ihrem Sohn Isaak Botschaften von Gott weitergeben.
«Engel haben vor allem zwei Aufgaben, eine Boten- und eine Schutzfunktion», sagt Dorothea Lüddeckens, Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Zürich. Die Schutzfunktion zeigt sich schon in den altorientalischen Cherubim, die heilige Stätten bewachten und schützten. Im Begriff Schutzengel setzt sich diese Tradition, auch in der Alltagssprache, bis heute fort.
Haben Engel einen Körper?
Engel sind unsichtbar, nimmt man an. Sichtbar werden sie nur, wenn es nötig ist, beispielsweise um Menschen etwas mitzuteilen. Vor allem im Mittelalter stritt man sich in der Philosophie und Theologie darum, ob Engel eine Körperlichkeit haben und ob sie ohne Körper überhaupt eine Geschichte haben. Sie bewegen sich schnell wie das Licht und können an mehreren Orten präsent sein. «Diese Diskussionen haben moderne Parallelen, auch heute diskutieren wir über eine Intelligenz ohne Körper, nämlich die künstliche Intelligenz», sagt Religionswissenschaftler Hafner. Und er sehe eine weitere sehr aktuelle Parallele. Mache man sich Gedanken darüber, ob Engel gleichzeitig an mehreren Orten sein könnten, stecke man irgendwann mittendrin in den Diskussionen um die Quantenphysik.
Wie sehen Engel aus?
Im Austausch mit Menschen nehmen Engel meist eine menschenähnliche Gestalt an. Wie sie dabei aussehen, verändert sich je nach Epoche und Kultur. In unserem Kulturkreis stellen sich die meisten Menschen Engel mit weissem Kleid und zwei Flügeln vor. Das weisse Kleid ist ein Überbleibsel aus der Antike, wo Männer Toga und Tunika trugen.
Damals hatten die Menschen aber noch ein anderes Bild von Engeln. Im Buch Ezechiel (Tanach / Altes Testament) beschreibt der Autor einen Engel als Wesen mit vier Gesichtern, vier Flügeln und Füssen eines Stiers, er erscheint in einer Wolke aus Feuer.
In der europäischen Kunst seit der Renaissance, vor allem im Barock, werden Engel als pausbäckige fröhliche Babys dargestellt. Auch diese Verbildlichung geht auf die römische Antike zurück. Damals zeigte man auf Särgen die Seelen der Verstorbenen in einem ähnlichen Stil. Heute nennt man diese dicken Engelchen oftmals Cherubim, was zu viel Verwirrung führt. Denn Cherubim sind ursprünglich löwenartige Wächterwesen, niedlich sind sie nicht.
Haben Engel ein Geschlecht?
Diskussionen gibt es um die Frage, ob Engel männlich, weiblich oder geschlechtslos sind. Heute stellen sie sich viele Menschen als Kinder oder Frauen vor. «Eigentlich sind Engel geschlechtslos», sagt Religionswissenschaftlerin Lüddeckens. In der Bibel haben die wichtigsten Engel allerdings mit Gabriel und Michael Männernamen, weshalb sie sich viele dann auch als Männer vorstellen.
So schreibt auch die englische Wissenschaftlerin Valery Rees in ihrem Buch «Von Gabriel bis Luzifer: Eine Kulturgeschichte der Engel»: «In der Frühzeit waren Engel männlich und wurden grundsätzlich (jedoch nicht immer) als geflügelt dargestellt.» Erst die bürgerliche Kultur seit dem 19. Jahrhundert machte aus den Engeln liebliche Wesen, die entsprechend den damaligen Idealbildern dann als Frauen oder Kinder dargestellt wurden.
Warum sind Engel heute so populär?
Der Glaube an Engel hatte in den letzten Jahrzehnten Konjunktur. «Mehr Menschen glauben an Engel als an einen Gott», sagt Religionswissenschaftlerin Lüddeckens. Das zeigt auch eine Umfrage des Bundesamtes für Statistik aus dem Jahr 2019. 58 Prozent der Frauen in der Schweiz sind sicher oder eher sicher, dass es Engel oder «übernatürliche Wesen, die über uns wachen», gibt. Bei den Männern sind es nur 38 Prozent. «Den Engeln fühlen sich die Menschen viel näher», sagt Lüddeckens. Der Glaube an sie habe meist etwas Tröstliches, sei unkompliziert und eine sehr persönliche Verbindung. Viele Menschen stellten sich dabei die Engel nicht unbedingt bildlich vor, sondern eher als schützende Kraft, die einen begleitet. «Jeder kann in die Engel hineininterpretieren, was er möchte», sagt auch Hafner, «deshalb sind sie so populär.» Die grosse Beliebtheit zeige sich auch auf Friedhöfen. «In den letzten zwanzig Jahren haben die Engelsfiguren auf Gräbern zugenommen», sagt Lüddeckens.
Was sind Schutzengel?
Schon im Alten Testament treten Engel auch als schützende Wesen auf, beispielsweise im Buch Tobit, wo ein Engel den Sohn des verarmten und blinden Tobit auf einer Reise begleitet und beschützt. «Im 18. und im 19. Jahrhundert wurde es dann populär, dass jeder seinen eigenen Schutzengel hat», sagt Hafner. Verstärkt habe sich das noch mit der Individualisierung in den letzten Jahrzehnten.
Sind Engel immer nett?
Heute schon, früher nicht, lautet die knappste Antwort auf diese Frage. Während wir heute auf die positiven Eigenschaften der Engel fokussieren, konnten sie früher durchaus auch streitbar sein. Auch von den Erzengeln aus der Bibel gibt es Darstellungen, die sie beispielsweise mit Schwertern zeigen. In diesem Zusammenhang kennt man auch den Begriff Racheengel. Erzengel sind besonders mächtige Engel oder, in einem modernen Sinn, die Vorgesetzten der Engel.
Was haben Engel mit Weihnachten zu tun?
Anders als der Weihnachtsmann kommen Engel in der biblischen Weihnachtsgeschichte und in den Ereignissen um die Geburt des Jesus von Nazareth tatsächlich vor. Schon vor der Geburt Jesu bringen Engel wichtige Botschaften. Der Erzengel Gabriel erscheint Maria und kündigt ihr die Schwangerschaft an, Josef bekommt ebenfalls Besuch von einem Engel, der ihm aufträgt, sich um Maria und das Kind zu kümmern. Und auch bei den Hirten in der Nähe des Stalls tauchen Engel auf, um die Nachricht von der Geburt Jesu zu verbreiten.
Dieser Artikel erschien erstmals im Dezember 2022. Für die Feiertage ergänzen wir unser Angebot für Sie.
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