Hunger als WaffeIn Äthiopien eskaliert der Bürgerkrieg
Eigentlich sollten Wahlen stattfinden. Doch Premier Abiy Ahmed lässt die Unruheprovinz Tigray bombardieren. Und der Friedensnobelpreisträger schürt weiter die Angst im Land.
Selbst einzelne Worte sind in diesem Krieg schwer umkämpft: «Es gibt keinen Hunger in Tigray», behauptet Äthiopiens Premier Abiy Ahmed und widerspricht damit der UNO, die sich zunehmend alarmiert zeigen über die humanitäre Lage im Norden des Landes. Nach Erkenntnissen der UNO-Experten leiden dort schon 350’000 Menschen Hunger, weitere zwei Millionen seien akut davon bedroht.
Doch Abiy will allerhöchstens «ein Problem» in Tigray erkennen, wie er das nennt. «Und wir sind dazu fähig, es zu lösen», versichert er. Wie diese Lösung aussieht, hat er nicht näher benannt, aber dass es rasch einen humanitären Korridor geben könnte, ist nicht sehr wahrscheinlich. Vielmehr erlebt das Gebiet eine erneute Rebellenoffensive. Und die äthiopische Armee führte Luftschläge aus, bei denen angeblich auch ein Markt getroffen wurde, es sollen Dutzende Menschen gestorben sein. Vorwürfe, es ziele auf Zivilisten, wies das Militär zurück, es kämpfe dort gegen «Terroristen».
Die Gemengelage ist kompliziert, auch der Nachbar Eritrea mischt militärisch mit. Vorwürfe von Gräueltaten, wie sie die UNO-Menschenrechtskommissarin in Genf angeprangert hat, richten sich gegen alle bewaffneten Seiten. Jeder dritte Bewohner von Tigray ist ein Vertriebener des Bürgerkriegs, der im Herbst begann. Tausende sind schon gestorben. Nun entflammt der Konflikt noch stärker und macht Tigray zum gefährlichsten Brennpunkt am Horn von Afrika, einer Region, die ohnehin arm an Frieden und Stabilität ist.
Menschen werden ausgehungert
Dabei dient der Hunger – wieder einmal – als «Waffe des Krieges». «Es ist nicht nur so, dass Menschen hungern, sie werden ausgehungert», schreibt die Nachrichtenagentur AP, der es kürzlich gelang, mit einem Team Zugang nach Tigray zu bekommen. Demnach stehlen und blockieren eritreische und äthiopische Soldaten Lastwagen mit Nahrung, Bewaffnete bedrohen Bauern, wenn sie pflügen oder säen wollen, sie rauben Saatgut und Gerätschaften, sie töten Vieh.
Der Zeitpunkt der Rebellenoffensive ist kein Zufall. Am Montag fand die erste Phase einer Parlamentswahl statt, von der sich Abiy ein starkes Mandat erhofft. Das wollen die Aufständischen in Tigray, wo es wegen der Kämpfe ohnehin keine Abstimmung gab, durchkreuzen. Sie versuchen, Abiy schwach erscheinen zu lassen. Ein Mitglied der Tigray Defence Force (TDF) erklärte, ihre Truppen hätten mehrere Orte erobert. Eine unabhängige Überprüfung ist derzeit kaum möglich, das Gebiet ist abgeschottet, doch der Nachrichtensender BBC beruft sich auf Zeugen, die einen solchen Vormarsch bestätigten.
Verbitterte Ex-Machthaber rächen sich
Die Rebellen sollen massgeblich von jenen Kräften gesteuert werden, die vor dem Regierungsantritt Abiys 2018 fast drei Jahrzehnte lang die äthiopische Zentralregierung geführt hatten. Es sind die verbitterten Ex-Machthaber, mit denen Abiy keinen Ausgleich findet.
Noch erwartet Äthiopien das Ergebnis der ersten Wahlphase, die mancherorts von Oppositionsgruppen boykottiert wurde. In etwa einem Fünftel der Wahlkreise wurde wegen Sicherheitsproblemen gar nicht abgestimmt. Wie immer das Mandat für Abiy ausfallen mag: Er dürfte es schwer haben, daraus jene Legitimität abzuleiten, die er braucht, um seiner Vision vom geeinten Äthiopien, von einem neuen afrikanischen Kraftwerk, näherzukommen.
Das Gegenteil zeichnet sich ab: Tigray ist zum Symbol einer Spaltung geworden, die, wenn sie Nachahmer beflügelt, den Anfang vom Ende des Vielvölkerstaates bedeuten kann. Experten sprechen von immer virulenter werdenden «Ethnonationalismen», etwa in den Gebieten der grössten Volksgruppen, der Amhara und Oromo, die zusammen fast zwei Drittel der 110 Millionen Äthiopier ausmachen.
Eine weitere Eskalation kann «zum Kollaps der Staatsgewalt und zum Zerfall Äthiopiens führen», warnt William Davison von der Organisation International Crisis Group. Die Gruppe analysiert Konflikte und schlägt mögliche Lösungen vor. Im November war Davison ohne Angabe von Gründen aus Äthiopien deportiert worden, eines von vielen Indizien, dass Abiy nach anfänglichen Reformen zurückgerudert ist. Freiheiten, die er anfangs gewährte, kassiert der Staat wieder ein, die Repression kehrt zurück.
Abiy blickt nun nach China und Russland
Laut Davison bräuchte das Land aber einen breiten Prozess der Versöhnung, um die voneinander entfremdeten Gruppen zusammenzuführen. Abiy zeigt daran wenig Interesse, mehr noch, seine Ankündigung, er wolle interne Feinde Äthiopiens «zerstören», schürt Angst und Misstrauen.
Dass der Friedensnobelpreisträger von 2019 nur ein Jahr später Truppen nach Tigray schickte, hat auch zur Entfremdung vom Westen geführt. Die USA haben Sanktionen verhängt, das Verhältnis zur Europäischen Union ist zerrüttet. Das macht es wahrscheinlich, dass sich Abiy bald stärker nach Russland und China orientieren könnte, wo autoritäres Regieren keine Kritik provoziert.
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