Kanon der QuarantäneVerrücktes Geschehen in der Unterwelt
Lewis Carrolls «Alice im Wunderland» revolutionierte die Kinderliteratur und entzückt bis heute Kinder, Mathematiker und Sprachphilosophen.

Ein Kinderbuch? Sicher, aber mehr als das. Und sind wir nicht alle geprägt von den (vor)gelesenen Geschichten unserer Kindheit? Bei uns sind das «Grimms Märchen» und «Heidi», in der angelsächsischen Welt ist das vor allem Lewis Carrolls «Alice im Wunderland» (mit dem Nachfolger «Alice hinter den Spiegeln»).
1865 und 1871 veröffentlicht, brachten die Bücher einen neuen Ton in die brav-erbauliche Literatur für Kinder. Alice gerät, nachdem sie in ein Kaninchenloch und tief in die Erde gefallen ist, in ein Geschehen, aus dem keine moralischen Lehren gezogen werden können, in eine verrückte Welt voller seltsamer Gestalten und absurder Wendungen.
Sie begegnet einem Dodo, einer Shisha rauchenden Raupe, einer Herzkönigin und vielen anderen Gestalten. Und die verhalten sich unberechenbar, mal aggressiv, mal beleidigt. Auch Alice, die mit ihrem aus der Oberwelt stammenden Konversationsanstand hier nicht weit kommt, eckt an, tritt in Fettnäpfchen, streitet herum.
Mal winzig klein, mal riesengross
Eine seltsame kindliche Heldin, die Selbstgespräche führt und zusehends an ihrer Identität irre wird: Mal ist sie winzig klein, dann wieder riesenhaft gross (schuld sind diverse Flüssigkeiten, Biskuits und Pilze – etwa Drogen?). Das Ganze folgt einer Traumlogik, in der sich Gefahren – die «Kopf ab!»-Königin – in nichts auflösen. Eine Welt des Spiels ist es auch, im ersten Band des Karten-, im zweiten des Schachspiels. Gespielt wird ebenso mit der Sprache und der Logik. Verse, mit denen seinerzeit die Kinder erfreut oder traktiert wurden, werden verdreht und verballhornt (deutschsprachigen Lesern dürfte da manches entgehen).
Berühmt ist der Dialog mit dem eiförmigen Humpty Dumpty, für den Wörter genau die Bedeutung haben, die er ihnen gibt. Sprachwissenschaftler nennen eine solche «intentionalistische» Bedeutungsgebung Humpty-Dumpty-Semantik (letztlich funktioniert die Gendersprachlenkung auch so), für Logiker sind Begründungen qua Macht Humpty-Dumpty-Argumente (siehe Trump, würden wir heute sagen).

Alices Abenteuer haben Autoren von Oscar Wilde bis James Joyce begeistert und inspiriert, und kaum überblickbar ist die Zahl der Ausgaben, Adaptionen, Parodien, Verfilmungen.
Alices Erfinder Lewis Carroll käme heute allerdings unter schweren #MeToo-Beschuss. Charles Lutwidge Dodgson, so sein bürgerlicher Name, ein Mathematik-Tutor am Christchurch College in Oxford, liebte nämlich kleine Mädchen. Dreien von ihnen, den Töchtern seines Dekans, hat er den Kern der Abenteuergeschichte auf einer Bootsfahrt erzählt. Eine von ihnen, die elfjährige Alice Liddell, hat er besonders geliebt. Zwar in aller Unschuld, soweit man weiss, aber den Eltern wurde es irgendwann zu viel, und sie brachen den Kontakt ab.
Dodgson war auch ein Pionier der Fotografie, bevorzugtes Objekt: kleine Mädchen, auch nackt. Das war zwar in viktorianischen Zeiten ein nicht unübliches Motiv (Unschuld! Reinheit!), aber heute sehen wir das anders. Und halten uns an die Alice im Wunderland.

Fehler gefunden?Jetzt melden.