Interview mit Bestsellerautorin«Im Patriarchat ist es ziemlich egal, ob die Frauen Orgasmen haben»
Emilia Roig sagt, dass die Art, wie wir Sex haben, hochpolitisch ist. Sie will Frauen wie Männer von der «Penetrationspropaganda» befreien.
Die französische Politologin Emilia Roig hat im März ihr zweites Buch «Das Ende der Ehe» veröffentlicht, eine scharfe Abrechnung mit dem Patriarchat – und ein Bestseller. Darin hat sie auch ein Kapitel zum Thema Sex geschrieben, für das sie mehrere Wochen recherchiert hat – und das zu wenig beachtet werde, wie sie kürzlich in einem Podcast sagte. Wir haben nachgefragt.
Frau Roig, was ist eigentlich Sex?
Die gesellschaftliche Antwort auf die Frage bezeichnet heterosexuellen Sex, penetrativen heterosexuellen Sex. Die Penetration ist das, was unter Sex verstanden wird, und das heisst, Sex wird auch immer in Verbindung gebracht mit Fortpflanzung. Dabei wird er zum politischen Akt, er ist tief verankert in einem patriarchalen System.
Das Patriarchat bestimmt also auch den Sex?
Dass Sex mit Penetration gleichgesetzt wird, ist eine sehr männliche Perspektive. Für Frauen und Menschen mit Vagina, Vulva und Klitoris ist sie nicht die erste sexuelle Praktik, die zu Vergnügen und Orgasmen führt. Die Tatsache, dass penetrativer Sex als Hauptpraktik behandelt wird, zeigt, dass es auch eine Frage der Macht ist.
Sie fordern in Ihrem Buch, dass wir Sex neu denken, weg vom männlichen Fokus.
Ja. Die Auffassung von Sex müsste breiter sein. Sex könnte auch einfach sein: zwei oder mehr Erwachsene, die sich Gutes tun, die sich und anderen körperliches Vergnügen bereiten.
«Die Art, wie die menschliche Sexualität gelebt wird, hat so gesehen wenig Natürliches.»
Sie haben lange zum Thema recherchiert. Wann ist das passiert, dass wir Sex so eng sehen? Lässt sich das historisch zurückverfolgen?
Nein. Aber seit das Patriarchat etabliert ist, war die Sexualität immer auch ein Weg, die Frauen zu kontrollieren. Es gab die eheliche Pflicht, die Idee, dass eine Frau für Sex mit ihrem Mann zur Verfügung zu stehen hat. Die Penetration ist nicht zu trennen von einem System der männlichen Dominanz.
Woran machen Sie das fest?
Schon die Sprache, die für penetrativen Sex verwendet wird, zeigt das. Es ist meist eine ziemlich gewaltvolle Sprache: «ficken», zum Beispiel. Der Mann erobert, der Mann ist aktiv, die Frau passiv. Das zeigt sich sogar in der Darstellung der Befruchtung. Das Spermium wird aktiv gesehen, und die Eizelle wartet darauf, befruchtet zu werden. Dabei ist auch das Ei aktiv. Das alles fördert die Idee einer Passivität bei der Frau. Man könnte auch anders über Sex reden.
Was anderswo auf der Welt auch der Fall ist, wie Sie in Ihrem Buch schreiben.
Ja, zum Beispiel bei den Yoruba in Westafrika wird von Einkapselung gesprochen. Dass die Vagina den Penis aufnimmt. Da ist ein ganz anderes Verständnis dahinter.
Was war für Sie bei der Recherche zum Thema die wichtigste Erkenntnis?
Für mich war der Umkehrgedanke ein Aha-Erlebnis: Wenn die Penetration bei Männern nicht zu Orgasmen führen würde und wenn Männer schwanger werden könnten, mit allen Nebenwirkungen und Gefahren, dann wäre die Penetration höchstwahrscheinlich nur eine Nebenpraktik, die explizit zur Fortpflanzung eingesetzt würde. Die Art und Weise, wie die menschliche Sexualität gelebt wird, hat so gesehen wenig Natürliches. Sie ist beeinflusst von der Kultur, von Macht. Eben, Penetration ist politisch. Weil die Verantwortung für Schwangerschaften bei den Frauen liegt, weil sie die Kosten tragen müssen und der Möglichkeit, schwanger zu werden, immer wieder ausgesetzt werden. Eine Schwangerschaft kann lebensbedrohlich sein. Hätte ich in einem entfernten Dorf ohne medizinische Versorgung gelebt, wäre ich bei meinem zweiten Kind gestorben.
Wie sieht denn unpatriarchaler Sex aus?
Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft. Somit ist auch der heterosexuelle Sex patriarchal, das muss man sich einfach bewusst sein, auch wenn ich für diese Auslegung immer wieder Widerspruch erfahre. Ich sehe aber, dass die Körper von Frauen enttabuisiert werden. Gewisse Mythen werden entlarvt, zum Beispiel, dass der Orgasmus bei Männern viel mechanischer und einfacher zu erreichen ist als bei Frauen. Der weibliche Orgasmus ist nicht magisch und mysteriös, als wisse man nicht, woher er kommt. Es gibt Platz für andere Praktiken jenseits der Penetration, für andere Formen von Sex. Das kommt letztlich allen Menschen zugute, Menschen mit Behinderung, Frauen, die an Vaginismus leiden – oder Männern mit Erektionsstörungen.
«95 Prozent der Männer haben Orgasmen beim heterosexuellen penetrativen Sex gegenüber nicht mal 60 Prozent der Frauen.»
Penetrativer Sex bereitet vielen Vergnügen, Männern wie Frauen, hetero- und homosexuellen Menschen. Wo liegt das Problem konkret?
Es wird oft so dargestellt, dass die Penetration etwas ganz Natürliches sei, ganz intuitiv. Ja klar, es ist ein natürlicher Akt, es ist der natürliche Akt, der zur Fortpflanzung führt. Es gibt daneben aber noch viele Praktiken, die nicht der Fortpflanzung dienen, und diese werden komplett ausgeblendet – und wurden historisch auch verboten. Es gibt viele Frauen, die die Penetration als unangenehm empfinden, aber den gesellschaftlichen Druck verspüren, sich ihr auszusetzen. Auch wenn sie nicht schwanger werden wollen. Im Patriarchat ist es ziemlich egal, ob die Frauen Orgasmen haben, welche Vorlieben sie haben. Das kann doch nicht im Sinne aller sein.
Verändert sich denn was?
Ja, es tut sich was. In Lehrbüchern ist die Klitoris jetzt vollständig abgebildet, vielen Menschen ist die Orgasmuslücke ein Begriff. Aber die Penetration wird als wahre Verbindung, als der normale, natürliche Sex dargestellt.
Für alle, denen das nichts sagt, ganz kurz: Was ist die Orgasmuslücke?
Mehreren Studien zufolge erleben 95 Prozent der Männer Orgasmen beim heterosexuellen penetrativen Sex – gegenüber nicht mal 60 Prozent der Frauen beim heterosexuellen Sex.
Sie schreiben, dass es im Alltag eine regelrechte «Penetrationspropaganda» gebe. Was meinen Sie damit, wie läuft die?
Inzwischen läuft sie längst von allein. Wenn es in einem Film eine Sexszene gibt, ist klar, was passiert, welchem Skript die Menschen folgen. Sex wird immer gleich dargestellt, der Penis penetriert die Vagina. Viele können sich gar nicht vorstellen, wie zwei Frauen miteinander Sex haben, was da passiert – das ist sehr bezeichnend.
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Sie haben einen achtjährigen Sohn. Wie spricht man mit Kindern über Sex?
Ich hätte nie gedacht, dass das Thema Sexualität so früh einen so grossen Platz einnehmen würde im Leben meines Kindes, es ist sehr präsent. An der Schule meines Sohnes gab es krasse Vorfälle von sexualisierter Gewalt – er ist in der zweiten Klasse! Das hatte explizit mit Machtausübung von gewissen Jungen gegenüber anderen Jungen und Mädchen zu tun. Die Jungs wollen sich behaupten, schon da werden sexualisierte Gesten zum Instrument der Domination, um ihre Position in der sozialen Hierarchie zu festigen. Für mich ist es sehr wichtig, meinem Sohn zu vermitteln, dass Sex mit Liebe, Zuneigung, Vergnügen, mit schönen Gefühlen verbunden ist, nicht mit Macht.
Was schlagen Sie denn vor, damit sich die Gesellschaft weniger auf diese Penetration fixiert?
Auf der individuellen Ebene geht es um Bewusstsein, das ist der erste Schritt. Es gibt sehr viele Menschen, die sich nicht mal im Klaren darüber sind, dass es eine Zentrierung auf die Penetration gibt in ihrem Sexleben. Damit fängt es an. Dann geht es darum, zu entdecken und zu erforschen, was es ausserhalb der Penetration gibt, das einem Spass macht. Es gibt unzählige Männer, für die es normal ist, dass ihre Frauen beim gemeinsamen Sex keinen Orgasmus haben, weil sie selbst das möglicherweise auch akzeptiert haben. Vergnügen kann und sollte eine geteilte Sache sein.
Und im Grösseren?
Gesellschaftlich ist es wichtig, die Sexualität von der Reproduktion zu entkoppeln. Mit Jugendlichen wird vor allem in Zusammenhang mit ungewollten Schwangerschaften, Vergewaltigungen, HIV und Aids über Sex gesprochen. Das rückt wieder die Penetration in den Fokus und lenkt vom Vergnügen weg.
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