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Gastbeitrag zu Nahost
Der Bullshit hat gewonnen

epa11008480 Protesters hold banners and flags as they march towards the Victorian Parliament during a Pro-Palestine demonstration in Melbourne, Australia, 03 December 2023. Thousands of Israelis and Palestinians have died since the militant group Hamas launched an unprecedented attack on Israel from the Gaza Strip on 07 October, and the Israeli strikes on the Palestinian enclave which followed it.  EPA/DIEGO FEDELE AUSTRALIA AND NEW ZEALAND OUT
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Die britische BBC veröffentlichte vor einigen Tagen ein Video einer Palästinenserin, die im Rahmen des Gefangenenaustausches von Israel freigelassen wurde. Im Video bedankt sie sich bei der Hamas. Doch etwas stimmt nicht: Im BBC-Video steht diese Aussage zwar in der Untertitel-Übersetzung, aber die Person sagt auf Arabisch etwas ganz anderes.

Ein gewaltiger Shitstorm brach aus: Die BBC lüge und unterstelle einer Palästinenserin Hamas-Sympathien, um proisraelische Propaganda zu verbreiten, hiess es auf der Plattform X (vormals Twitter) und anderen Social-Media-Kanälen. Eine grosse Verschwörung? Nein. Bei der Produktion des Videos ist der BBC ein Fehler unterlaufen. Das korrekte Video wurde in der Zwischenzeit veröffentlicht, inklusive der Passage, in der sich die Frau bei der Hamas bedankt. Dem Shitstorm tat das keinen Abbruch.

Alle irgendwie unter Verdacht

Diese Episode ist beispielhaft für die Art und Weise, wie wir über die Situation im Nahen Osten diskutieren. Es gibt keinen Platz für Grautöne; alles muss schwarz oder weiss sein. Die «Welt am Sonntag» stellt Kulturschaffende unter Antisemitismusverdacht, weil sie sich nicht genau so, wie es die «Welt am Sonntag» fordert, gegen Judenhass positionieren. Die Klimaaktivistin Greta Thunberg tritt mit einer Terror-Apologetin auf, die die Hamas als legitimen Widerstand gegen die israelische Okkupation zelebriert. Der konservative Aktivist Douglas Murray geht in einer Fernsehsendung mit der irrwitzigen Behauptung viral, die Hamas sei schlimmer als die Nazis, weil die Nazis im Unterschied zur Hamas jüdische Menschen nur gegen ihre eigentliche innere Überzeugung ermordet hätten.

Die diskursive Entgleisung zum Nahostkrieg ist nur das jüngste Symptom einer längeren Entwicklung. Heute gibt es so viele Stimmen wie noch nie. Das ist an sich eine positive Entwicklung. Das Problem: Aufmerksamkeit wird dadurch zu einem immer knapperen Gut. Der Tag hat nach wie vor nur 24 Stunden, aber immer mehr Meinungen buhlen um unsere Aufmerksamkeit. Wer nicht alles tut, um aus der wachsenden Masse der Meinungen hervorzustechen, geht in der Bedeutungslosigkeit unter. Was uns wütend macht und schockiert, zieht.

Natürlich sollten wir nicht eine Vergangenheit romantisieren, in der alles ganz anders war. Menschen wollten in der öffentlichen Debatte immer schon gehört werden. Das Tempo und das Volumen der Debatte haben aber derart zugenommen, dass Argumente und Inhalte zunehmend auf der Strecke bleiben.

Das fatale Modell «4chan»

Wohin diese Entwicklung führt, zeigt die unter anderem bei rechtsextremen Terroristen beliebte Plattform «4chan». Auf «4chan» werden Diskussionen im Sekundentakt gestartet. In dieser Flut bleibt nur sichtbar, was User genügend stark provoziert, schockiert, wütend macht. Die Wahrheit spielt keine Rolle mehr. Es geht nur noch um Bullshit. Bullshit nach dem Philosophen Harry Frankfurt bedeutet: Ob etwas wahr ist oder nicht, ist egal – Hauptsache, das Gesagte hat den gewünschten Effekt.

Die Fehlanreize, die «4chan» zu einem schwarzen Loch des destruktiven Bullshits machen, prägen zunehmend auch die breitere öffentliche Debatte. An den Regeln der neuen Aufmerksamkeitsökonomie führt kein Weg vorbei. Medien wollen Klicks, Social-Media-User wollen Likes.

Der Nahostkrieg zeigt, wer in dieser Dynamik verliert: die Menschen, um die es vordergründig geht. All die (Bull-)Shitstorms in Endlosschlaufe zum Nahostkrieg reduzieren in keiner Weise das Leid der Menschen in Israel und Palästina. Die besondere historische und politische Konstellation, in der sie sich befinden – ein Konflikt mit langer Geschichte ohne immer klares moralisches Gefälle – ist lediglich ein besonders geeigneter Nährboden für Aufmerksamkeitsbewirtschaftung.

Marko Kovic ist Sozialwissenschaftler und beschäftigt sich schwerpunktmässig mit gesellschaftlichem Wandel.