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IKRK-Direktor im Interview
«Wir nehmen die Geiseln in Empfang und bringen sie aus dem Gazastreifen»

Yocheved Lifshitz, 85, who was held hostage in Gaza after being abducted during Hamas' bloody Oct. 7 attack on Israel, waves to the media, a day after being released by Hamas militants, at Ichilov Hospital in Tel Aviv, Israel, Tuesday, Oct. 24, 2023. (AP Photo/Ariel Schalit)
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Wir erreichen Sie auf dem Sprung nach Dubai, Herr Schüepp. Stehen die nächsten Verhandlungen mit der Hamas an?

Nicht nur. Wir sind an verschiedenen Orten im Nahen Osten tätig, etwa in Syrien oder im Jemen. Aber natürlich, der Konflikt in Nahost beschäftigt uns stark.

Ihre Leute sind sehr nahe dran am Krieg und am humanitären Leid, das er verursacht. Was erleben sie vor Ort?

Momentan sind rund 120 Mitarbeitende des IKRK in Gaza im Einsatz. Sie erleben eine absolut dramatische humanitäre Lage. Hunderttausende wurden vertrieben, und ihnen fehlt es an allem: an Zugang zu Wasser, Strom, an Essen – sie leben unter prekärsten Bedingungen.

Gleichzeitig fliegt die israelische Luftwaffe massive Angriffe.

Die Sicherheitslage erschwert die Arbeit natürlich stark. Meine Kolleginnen und Kollegen versuchen irgendwie, die Spitäler am Laufen zu halten, die ohnehin schon völlig überlastet sind. Doch dafür fehlt es bald an Benzin, um Krankenhäuser, die durch Generatoren betrieben werden, am Laufen zu halten. Und die medizinischen Güter fehlen ohnehin. Die Bedürfnisse sind viel grösser als das, was wir leisten können.

Einen «Hoffnungsschimmer» gibt es, wie es das IKRK nannte, respektive zwei. Ihre Organisation hat dabei geholfen, dass letzte Woche zwei verschleppte US-Amerikanerinnen und am Montag zwei Frauen aus Israel aus dem Gazastreifen befreit wurden. Wie war diese Geiselbefreiung möglich?

Das IKRK hat eine jahrzehntelange Erfahrung damit, die Rolle als neutraler Vermittler einzunehmen. Solche Verhandlungen finden nicht von heute auf morgen statt. Für Geiselbefreiungen braucht es sehr viel Vertrauen, das wir über jahrelange Arbeit in Konfliktgebieten wie dem Gazastreifen aufbauen. Nur so ist ein Dialog mit den Konfliktparteien möglich.

Was genau hat das IKRK dazu beigetragen, dass die vier Verschleppten in Sicherheit gebracht wurden?

Sobald eine Vereinbarung getroffen wurde, besteht unsere Rolle als neutraler Vermittler darin, die Geiseln sicher aus dem Gazastreifen an einen zuvor vereinbarten Ort zu bringen. Konkret bedeutet das, dass wir uns an einem bestimmten Punkt treffen, die Geiseln in Empfang nehmen und sie über die Frontlinie aus dem Gazastreifen herausbringen. Viele haben wahrscheinlich die Bilder gesehen, in denen unsere Teams dafür gesorgt haben, in solch erschütternden Momenten Trost zu spenden. Eine einfache Umarmung kann so viel bewirken.

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Wie gingen Ihre Leute denn vor, um die Geiseln zu befreien?

Als IKRK beschränken wir uns immer auf die humanitäre Rolle. Wir haben also mehrfach öffentlich darauf hingewiesen, dass die Hamas alle Geiseln unverzüglich zur Wahrung des humanitären Völkerrechts freilassen muss. Weil sie das nicht tat, forderten wir, Zugang zu ihnen zu kriegen. Damit wir sehen können, ob sie beispielsweise medizinische Hilfe brauchen. Sehr wichtig ist auch, dass wir den Kontakt zu ihren Familien herstellen können. Für die Angehörigen sind Geiselnahmen unheimlich belastend, da ist ein Lebenszeichen der Verschleppten schon viel wert.

Gleichzeitig knüpft die Hamas die Freilassung weiterer Geiseln an die Bedingung, dass Israel Treibstoff und Arzneimittel in den Gazastreifen liefern lässt.

Wir sehen in erster Linie das unglaubliche Leid, das der Konflikt verursacht. Seien es die Familien, die um ihre verschleppten Angehörigen trauern, die unter den schwierigsten Bedingungen leben oder Angehörige verloren haben. Wir richten daher unseren Fokus auf die humanitären Anliegen. Dafür müssen wir strikt unsere neutrale und unabhängige Rolle innehaben. Aber die Freilassungen haben uns schon Hoffnung gegeben, dass wir im Dialog etwas bewirken können.

Über 200 Geiseln werden weiterhin festgehalten. Expertinnen und Experten haben in den letzten Wochen wenig Hoffnung gegeben, dass diese zahlreichen Verschleppten bald freikommen könnten.

Wenn man im humanitären Bereich tätig ist, muss man die Hoffnung immer wahren. Die Bedürfnisse und das menschliche Leid, die wir täglich sehen, sind immens. Häufig können wir viel zu wenig machen, auch für die Hunderttausenden Leute im Gazastreifen. Wir müssen eine positive Einstellung behalten und uns fragen: Wem können wir helfen?

Women stand before a wall of posters identifying the Israeli hostages held by Palestinian militants since the October 7 attack, during a demonstration near Azrieli Mall in Tel Aviv on October 24, 2023. Fighting has entered its 18th day in the Gaza Strip after Hamas gunmen stormed into Israel on October 7, killing at least 1,400 people and taking over 200 hostages, according to Israeli officials. (Photo by AHMAD GHARABLI / AFP)

Schwierig ist auch die Lieferung von Hilfsgütern. In den letzten Tagen durften immerhin ein paar Dutzend Lastwagen voll von Ägypten her nach Gaza gebracht werden. Wie erleben es Ihre Leute?

Wir begrüssen, dass gewisse Hilfsgüter den Weg nach Gaza gefunden haben. Aber die paar Lastwagen sind bei weitem nicht genügend, um eine Bevölkerung zu versorgen, die 1,5-mal so gross ist wie jene des Kantons Zürich. Es braucht einen ständigen Fluss von Gütern und vor allem auch, dass mehr Personal in den Gazastreifen gelassen wird. Mit jeder Kriegshandlung braucht es noch mehr Rücksicht auf die Zivilbevölkerung.

Welche Hilfsgüter sind besonders gefragt?

Es mangelt an allem. Besonders gross ist die Nachfrage nach Lebensmitteln und Wasser. Auch Benzin wäre wichtig, besonders für die Spitäler. Medizinische Güter sind auf dem Weg, aber leider hat es viel zu wenige in Gaza im Moment. Die Situation in den Spitälern ist dramatisch, das Personal ist am Anschlag.

Warum darf nicht mehr Personal ins Krisengebiet?

Gegenwärtig sind Diskussionen im Gang, um den Zugang für zusätzliches Personal sicherstellen zu können. Aber das dauert an.

«Wenn sich die Konflikthandlungen weiter intensivieren, muss alles unternommen werden, um die Zivilbevölkerung zu schützen.»

Martin Schüepp, Direktor Abteilung Feldeinsätze beim IKRK

Gleichzeitig bereitet sich Israel auf eine Bodenoffensive vor, die jederzeit losgehen könnte.

Wir beobachten das mit grosser Besorgnis. Wir sehen heute schon, dass Hunderttausende vertrieben wurden, Hunderttausende befinden sich nach wie vor im Norden des Gazastreifens. Viele können nicht weg, unter anderem, weil sie in den Spitälern liegen. Was uns wichtig ist: Wenn sich die Konflikthandlungen weiter intensivieren, muss alles unternommen werden, um die Zivilbevölkerung zu schützen.

Wie soll dieser Schutz erfolgen?

Die Konfliktparteien müssen die Menschlichkeit an die erste Stelle setzen und alles tun, um zu verhindern, dass die Zivilbevölkerung in Gaza weiter leidet. Alle Zivilisten müssen geschützt werden: Das gilt für die Bevölkerung von Gaza ebenso wie für die israelischen Geiseln.

Syria, Damascus city, Al Zahera area, During the ICRC director of Operations Martin Schüepp visit to Syria, on the 1st day he joined the ICRC team and SARC teams on a tour to the Yarmouk bakery, where the ICRC rehabilitated the bakery which was affected during the armed conflict and provided new bread production line to secure the bread production for 150,000 people in the surrounding neighborhoods. 4-6-2023

Sie waren schon in verschiedensten Konfliktgebieten, etwa in Afghanistan oder im Kongo. Inwiefern unterscheidet sich der Konflikt im Nahen Osten von anderen?

(Überlegt lange) Nun ja, jeder Konflikt findet in einem anderem politischen Kontext statt und hat seine Eigenheiten. Was ich feststelle, ist, dass die Auswirkungen häufig sehr ähnlich sind. In erster Linie sterben unschuldige Zivilisten, sie werden vertrieben oder verwundet und von ihren Familien getrennt. Darum ist unsere Arbeit weltweit häufig sehr ähnlich aufgegleist.

Hoffnung geben kleine Erfolge wie die Befreiung der vier Geiseln. Wann rechnen Sie mit der nächsten Befreiung?

Was ich sagen kann, ist, dass wir mit der Hamas und auch mit den israelischen Behörden über dieses Thema sprechen. Der Inhalt dieser Gespräche ist vertraulich – wie auch unsere Vorgehensweise weltweit. Wir haben klar und deutlich gesagt, dass wir als neutraler Vermittler bereit sind, humanitäre Besuche durchzuführen, die Kommunikation zwischen Geiseln und Familienangehörigen zu erleichtern und die Freilassung weiterer Geiseln zu ermöglichen.