Wahl zum BundespräsidentenEin durchzogener Start für Cassis
Der freisinnige Aussenminister ist der erste Tessiner seit langem an der Spitze der Landesregierung. Doch seine Wahl verlief nicht eben glanzvoll.
Was geschieht mit einem Bundesrat, der im Parlament eine grosse Schar von Kritikerinnen und Kritiker hat? In den frühen Jahren des Bundesstaats wurde er bei der Wahl zum Bundespräsidenten jeweils einfach zugunsten eines populären Kollegen übergangen.
Heute darf längst jeder Bundesrat und jede Bundesrätin einmal für ein Jahr das Präsidium übernehmen, nach einem Turnus, der von der Amtszeit abhängig ist. Doch je nachdem erfolgt die Wahl eben mit weniger Stimmen – und etwas weniger Glanz.
Erwartet wurde bei Ignazio Cassis: eher weniger Glanz. Besonders mit seiner Europapolitik hat er sich im Parlament viele Gegnerinnen und Gegner gemacht. Und so kam es dann am Mittwochmittag auch: Der Freisinnige erzielte 156 von 197 gültigen Stimmen. Das ist zwar nicht der Denkzettel, den einige vorausgesagt hatten. Aber es ist auch kein besonders gutes Ergebnis. Genauer gesagt: Es ist das viertschlechteste Resultat der jüngeren Geschichte.
Cassis landete noch vor Ueli Maurer, der bei seiner ersten Präsidiumswahl 148 Stimmen gemacht hatte – und auch vor Micheline Calmy-Rey. Sie fuhr 2010 das mit Abstand schlechteste Ergebnis in einer Präsidiumswahl ein, als sie bloss 106 von 189 gültigen Stimmen erhielt. Das Parlament bestrafte sie damit unter anderem für ihre Rolle in der Libyen-Affäre.
Die Genfer Sozialdemokratin hatte bereits bei ihrer ersten Wahl zur Bundespräsidentin Ende 2007 schlecht abgeschnitten: Nur 147 Parlamentarierinnen und Parlamentarier sprachen ihr damals das Vertrauen aus.
Ähnlich war es zuvor bereits Doris Leuthard (CVP) und Ruth Dreifuss (SP) ergangen: Sie erhielten für ihre Präsidien 2010 und 1999 jeweils nur 158 Stimmen. Überhaupt erhalten Frauen bei ihrer Erstwahl ins Präsidium weniger Stimmen als ihre männlichen Kollegen, wie der Politologe Adrian Vatter in seinem Werk «Der Bundesrat» nachgezeichnet hat.
Ein durchzogener Start für Cassis also. Dabei ist seine Wahl durchaus bemerkenswert. Der Sohn italienischer Einwanderer ist der erste Secondo, der nun für ein Jahr an der Spitze der Landesregierung steht. Vor allem aber ist er der erst fünfte italienischsprachige Bundespräsident überhaupt – und der erste seit Flavio Cotti im Jahr 1998.
Während seines Präsidialjahrs will Cassis die Vielfalt der Schweiz betonen und den inneren Zusammenhalt des Landes. Dieses Ziel hatten auch schon frühere Bundespräsidentinnen und Bundespräsidenten. Als Vertreter der italienischsprachigen Schweiz kann sich Cassis aber wohl etwas glaubwürdiger über die Rolle und die Befindlichkeiten von Minderheiten ausdrücken als etwa ein Deutschschweizer.
Cassis begann damit bereits mit einer Ansprache, die er am Vorabend seiner Wahl vor der Gesellschaft Helvetia latina hielt. «Keine Sprachregion hätte eine Daseinsberechtigung ohne die anderen», sagte er. Ohne die lateinischsprachigen Kantone gehörte die Deutschschweiz heute wohl zu Deutschland, die Romandie zu Frankreich und das Tessin zu Italien. Dass es die Schweiz überhaupt gebe, verdanke sie dem Zusammenhalt zwischen diesen Sprachregionen.
Bestimmt wird Cassis sein Präsidialjahr auch für einen Werbespot in eigener Sache nutzen. Es gab in letzter Zeit kaum einen grösseren Medienbeitrag über ihn, in dem nicht erwähnt wurde, dass der Tessiner in einer SRG-Umfrage als jener Bundesrat mit den schlechtesten Beliebtheitswerten in der Bevölkerung taxiert wurde. Frühere Weggefährten hoffen, dass sich das ändert. «Als Bundespräsident kann er sich von seiner guten Seite zeigen. Er kann selbst Themen setzen», sagte der ehemalige FDP-Präsident Fulvio Pelli dieser Zeitung.
Im Anschluss an Cassis’ Wahl wurde bestimmt, wer im kommenden Jahr das Bundesvizepräsidium übernimmt. Bundesrat Alain Berset erzielte dabei 158 von 204 gültigen Stimmen – auch das kein Traumresultat. Der Sozialdemokrat wird damit im Jahr 2023 wieder an der Spitze der Landesregierung stehen – zum zweiten Mal.
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