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Junge übernehmen das Rütli
«Ich stimme Blocher zu, dass wir die Neutralität definieren müssen. Aber …»

Jugendliche an einem Workshop an der 1. August-Feier auf dem Rütli.

«Die Jugend von heute liebt den Luxus», ruft Elisabeth Baume-Schneider ins Mikrofon. «Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten soll.» Ein Raunen geht durch die Menge, die auf der Rütliwiese der SP-Bundesrätin zuhört. 

Darunter sind viele Jugendliche, es ist ihr Tag, das Rütli gehört an diesem 1. August ihnen. Sie schauen sich verdutzt an. Meint sie das ernst?

«Die heutigen Kinder sind Tyrannen», fährt die Bundesrätin fort. «So sah es bereits Sokrates viele Jahrhunderte vor dem Rütlischwur.» Nun verwandelt sich die Irritation in den Gesichtern in ein Schmunzeln. Baume-Schneider sagt, dass sie nicht in dieses Klagelied über die Jugend einsteigen wolle. «Weil wir diese Jugend brauchen. Geben wir ihr die Gelegenheit, sich auszudrücken und auf die Politik einzuwirken.»

Noch nie war der Altersdurchschnitt auf der geschichtsträchtigen Wiese oberhalb des Vierwaldstättersees so tief. Obwohl Geschichtslehrer klagen, viele Jugendliche würden noch nicht mal den Rütlischwur kennen, sind über 150 junge Menschen ans «Jugendrütli» gereist. Wie sehen sie den Nationalfeiertag?

Florian Hebeisen (18), Gymnasiast aus Biel

Was feiern Sie heute?

Die Jugendpartizipation. Und wie die Menschen in unserer Demokratie mitbestimmen können.

Und warum am 1. August?

Weil der Feiertag bei uns tief verankert ist, auch wenn wir nicht wissen, wie viel der Geschichte wahr ist. Es verbindet uns irgendwie trotzdem.

Was bedeuten Ihnen Symbole und Mythen wie etwa der Rütlischwur?

Ich glaube, sie haben einen grossen Wert im Austausch zwischen den Generationen. Ich finde es wichtig, sie zu kennen und zu differenzieren, schliesslich bringen sie uns auch heute noch hier aufs Rütli, um über verschiedene Themen zu reden.

Beschreiben Sie die Schweiz in drei Worten.

Differenziert, divers – und durch beide Eigenschaften empfinde ich die Schweiz auch als offen. Indem wir wie hier mit dem «Jugendrütli» Neues ausprobieren.

Und was wünschen Sie sich von der zukünftigen Schweiz?

Dass es mehr Möglichkeiten für Jugendliche gibt, um an der Politik teilzunehmen und in die Politik zu gehen. Die Jugend wird zu wenig repräsentiert.

Hebeisen sitzt im Vorstand der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV). Neben der SAJV hat auch der Dachverband der Schweizer Jugendparlamente Dutzende junge Menschen aufs Rütli gelockt. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG), die die 1.-August-Feier jeweils organisiert, hat die beiden Verbände angefragt, ob sie ein «Jugendrütli» auf die Beine stellen.

So, wie die SGG letztes Jahr mit dem Eidgenössischen Schwingerverband eine Bundesfeier im Zeichen des Sägemehl-Sports organisierte. Und vor zwei Jahren ein «Frauenrütli» – in Erinnerung an 50 Jahre Frauenstimmrecht.

Anstoss für die Jugendausgabe gab das 175-Jahr-Jubiläum der Bundesverfassung. In nur 51 Tagen wurde sie als «Basis der modernen Schweiz» ausgearbeitet, mahnte SGG-Präsident Nicola Forster in seiner Festrede. «So effizient haben Politikerinnen und Politiker nachher wohl nie mehr gearbeitet!» Die SGG wolle die Jugend ermutigen, die Zukunft mitzugestalten.

Wer an dieser 1.-August-Feier Trachten, Stumpen und SVP-Exponenten suchte, machte das vergebens. Stattdessen sah man junge Menschen aus der ganzen Schweiz. Mal mit hohen Schuhen, die sie spätestens beim Wandern auf die Wiese verfluchten. Mal mit Falzhose oder im Blumenkleid.

Ellie Hutterli (22), Studentin aus Kreuzlingen

Was feiern Sie heute?

Es ist ein schöner Tag, um uns daran zu erinnern, was wir in der Schweiz schon alles geschafft haben. Gerade was unsere partizipative Demokratie angeht. Aber auch ein Tag, um darüber zu reden, wohin wir künftig gehen.

Wenn Sie Bundesrätin wären, was würden Sie als Erstes anpacken?

Die politische Bildung von Jugendlichen fördern. Dass wir sie mehr in der Schule und im Alltag integrieren.

Was bedeuten Ihnen Symbole und Mythen wie etwa der Rütlischwur?

Sie sind zwar etwas sehr Schönes. Ich glaube trotzdem nicht, dass sie zu unserer Grundidentität gehören. Wir haben uns weiterentwickelt.

Beschreiben Sie die Schweiz in drei Worten.

Sicher mit Partizipation und heimelig. Und offen, auch wenn Schweizerinnen und Schweizer manchmal sehr für sich sind.

Inwiefern gehört die Neutralität zur Schweiz?

Ich finde, wir müssen die Neutralität aktiv fördern. Ich stimme Christoph Blocher zu, dass wir die Neutralität definieren müssen. Aber viel offener. Und wir sollten sie als aktiven Prozess betrachten. Wir sollten uns mehr klar gegen Sachen aussprechen, die unseren Werten widersprechen. Wie den Ukraine-Krieg. 

Insgesamt tauschten sich rund 700 Junge und Erwachsene am «Jugendrütli» aus. Bei den Festbänken. Am Bratwurst- oder Kaffeestand. Vor allem aber an den Workshops, die die Jugenddachverbände in Zelten und vor der Festbühne organisierten.

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Die Nationalhymne zum Abschluss: SGG-Präsident Nicola Forster singt neben Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider.
Jugendliche diskutieren auf dem Rütli an einem Workshop über Grenzen und Vorurteile der Schweizer Demokratie.
Mittels Tafeln machen sie auf verschiedene Initiativen aufmerksam, die mehr Jugendliche in die Politik locken sollen …

Waren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mal nicht damit beschäftigt, ihre Regenschirme auf- und zuzuklappen, diskutierten sie über verschiedene Jugendthemen. Etwa, wie man Junge dazu bewegt, am politischen Diskurs teilzunehmen. Oder welche Vorurteile gegenüber Minderheiten bestehen.

«Wer wurde nicht in der Schweiz geboren?», fragt der Leiter eines Workshops. Zahlreiche Hände schnellen nach oben. «Das zeigt, wie vielfältig und divers die Schweiz ist», sagt er. 

Hamid Muhammadi (26), Backoffice-Mitarbeiter aus Bern

Was feiern Sie heute?

Den Geburtstag der Schweiz. Ich feiere ihn, weil ich vor sieben Jahren als Flüchtling aus Afghanistan hierherkam, mir ein Leben aufbauen konnte und Teil dieser Gesellschaft und Kultur geworden bin. Ich will teilhaben an dieser Feier.

Beschreiben Sie die Schweiz in drei Worten.

Phu, schwierig! Ich könnte Tage über die Schweiz reden und wäre nicht fertig. Für mich gehört Freiheit zur Schweiz, Freundlichkeit und – grün. (lacht) Im Vergleich zu meiner Heimat ist es sehr grün.

Was bedeuten Ihnen Symbole und Mythen wie etwa der Rütlischwur?

Ich kenne sie schlicht zu wenig, vom Rütlischwur habe ich schon gehört.

Soll die Schweiz neutral sein?

Ja, sie soll neutral bleiben und, egal, wo, ob in Afghanistan oder in der Ukraine, sich nicht in einen Konflikt einmischen, wenn das die Bevölkerung nicht möchte. Die Schweizer wollen, dass wir neutral bleiben.

Was würden Sie als Erstes angehen, wenn Sie Bundesrat wären?

Ich würde dafür sorgen, dass die Asylverfahren einfacher werden und auf die Notwendigkeit eingehen. Und weniger darauf, ob man den Leuten die Geschichten glaubt oder nicht. 

Die Jugenddachverbände sind nach der Feier zufrieden. Sie erinnern daran, dass die Jugend der SGG im 19. Jahrhundert dazu verhalf, die Rütliwiese zu erwerben. Und sie der Eidgenossenschaft zu schenken. Mit einer Sammelaktion machten es Kinder und Jugendliche damals möglich, die Waldlichtung am See zu kaufen. 

Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ermutigte in ihrer Festrede die Elterngeneration dazu, gemeinsam mit der Jugend eine «bessere Gesellschaft» aufzubauen. «In der Jugend steckt viel Hoffnung. Hoffnung, die wir gut gebrauchen können. Vertrauen wir auf ihren Mut», sagt die Jurassierin, bevor sie sich einer neuzeitlichen bundesrätlichen Pflicht widmet: Selfies mit dem Volk. 

Liess sich die Gelegenheit für ein Erinnerungsfoto nicht entgehen: Ellie Hutterli (rechts) posiert neben Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider.