Interview mit Flüchtlingen und Gastfamilie«Ich finde auch in meiner Muttersprache kaum Worte, meine Emotionen auszudrücken»
Wie funktioniert das Zusammenleben von Ukrainern und Schweizern? Wie viel Rücksichtnahme ist notwendig? Und wo hört das gegenseitige Verständnis auf? Eine ukrainische Familie und ihre Zürcher Gastgeber erzählen.
Dieser Text erschien erstmals am 24. Dezember 2022.
Mehr als 74’000 Ukrainerinnen und Ukrainer haben seit dem Ausbruch des Kriegs in der Schweiz Schutz gesucht. Darunter auch das Ehepaar Dascha Herasimonok und Oleksandr Schkliarow mit ihrem sechsjährigen Sohn Damir. Sie wohnen seit bald neun Monaten bei Regula Weber und Urs Hardegger in einem schmucken Reihenhaus in der Nähe des Zürcher Schaffhauserplatzes. Gemeinsam empfangen sie kurz vor Weihnachten zum Gespräch am Holztisch in ihrem Esszimmer. Die Gastgeber sprechen Deutsch, die Gäste Russisch. Miteinander verständigen sie sich auf Englisch, eher gebrochen. Bisweilen diskutieren und gestikulieren sie wild durcheinander. Auch der kleine Damir beteiligt sich munter – bis er dann doch lieber Lego spielen will.
Frau Herasimonok, Herr Schkliarow, können Sie sich noch an den Moment erinnern, an dem Sie Ihre Gastgeber zum ersten Mal sahen?
Oleksandr Schkliarow: Natürlich. Das war Anfang April. Wir waren da schon ein paar Wochen in der Schweiz. Aber aus unserem ersten Quartier mussten wir wieder raus, das Hotel war zu teuer. Ein paar Nächte schliefen wir sogar zu dritt in unserem Auto. Dann vermittelte uns eine ukrainische Helferin in Zürich die Adresse von Urs und Regula. An einem Samstagmorgen standen wir vor ihrer Türe. Bloss konnten wir dann erst eine Woche später einziehen.
Was war der Grund?
Regula Weber: Wir haben in unserem Haus den gesamten zweiten Stock für unsere Gäste freigemacht und sind in den ersten Stock gezogen. Und wir wollten unbedingt eine kleine Küche für sie einbauen. Das dauerte eine Woche.
Sie haben für die ukrainische Familie extra eine Küche eingebaut?
Urs Hardegger: Ja, es hat eine Herdplatte, ein Spülbecken und einen Kühlschrank, damit sie oben kochen können. Wenn sie den Backofen benutzen, kommen sie zu uns runter, in die Küche im Erdgeschoss. So sind wir mehr getrennt. Wir leben zwar unter einem Dach, wir sehen uns jeden Tag. Aber wir haben dadurch auch weniger Berührungsmöglichkeiten.
Fürchteten Sie Probleme?
Regula: Es war uns wichtig, Rückzugsmöglichkeiten zu haben – auch für unsere Gäste. Es ist anders, ob eine Familie hier wohnt oder eine einzelne Person. Beide Seiten brauchen eine Privatsphäre.
Urs: Wir wussten von früheren Gästen: Die neuralgischen Punkte sind natürlich das Badezimmer und die Küche. (lacht)
Hatten Sie gleich von Beginn weg – an diesem ersten Samstagmorgen – ein gutes Gefühl?
Regula: Ja. Sonst hätten wir es nicht gemacht.
Oleksandr, mittlerweile wohnen Sie mit Ihrer Familie schon neun Monate im Haus von Regula und Urs. Sie verbringen auch die Weihnachtsfeiertage zusammen. Ist Ihnen überhaupt zum Feiern zumute?
Oleksandr: Die Kälte, der Schnee der vergangenen Wochen – das löst schon Weihnachtsgefühle aus. Aber wenn wir Nachrichten aus der Ukraine bekommen, dann ist dieses Feiertagsgefühl sofort verschwunden. Wir konzentrieren uns lieber auf den Alltag: Ich kümmere mich um unseren Sohn Damir und Dascha geht arbeiten. Das lenkt uns ab. Aber die Traurigkeit kommt immer wieder. Sie kommt in Wellen. Es ist für alle sehr schwierig.
In der Ukraine wird Weihnachten doch eigentlich später gefeiert?
Dascha Herasimonok: Wir haben zwei Weihnachten: am 24. und 25. Dezember für die Katholiken, am 6. und 7. Januar für die Orthodoxen, wie wir es sind. Der 6. Januar ist unser Heiliger Abend. Da essen wir Kutja, das ist eine typische ukrainische Speise: ein süsser Buchweizenbrei mit getrockneten Früchten. Zu Hause in der Ukraine würden die Grosseltern kommen, und gemeinsam mit den Kindern würden wir Lieder beim Weihnachtsbaum singen.
Haben Sie dieses Jahr auch einen Weihnachtsbaum?
Regula: Eigentlich wollten wir keinen…
Oleksandr: Und ich wollte unbedingt eine «Jolka» kaufen, ein kleines Tannenbäumchen, das ihr danach im Garten einsetzen könnt. (lacht)
Regula: Das hat uns so gefreut! Bis jetzt waren wir an Weihnachten jeweils zu zweit, vielleicht zu dritt oder viert mit Freunden. Dieses Jahr haben wir mit unseren ukrainischen Gästen gefeiert.
Wie würden Sie das Zusammenleben mit der Flüchtlingsfamilie beschreiben?
Urs: Wir nehmen Anteil an ihrem Leben und sie an unserem. Sie sind eine sehr ruhige Familie. Und doch bekommen wir viel von ihrer Unruhe mit. Von der Unsicherheit, wie es weitergehen soll. Sie telefonieren oft in die Ukraine. Konflikte hatten wir bis jetzt keine.
Regula: Für mich ist es angenehm, sie zu hören. Dass sie da sind. Wir hören und sehen uns immer. Leider habe ich keine Chance, zu verstehen, was sie sagen.
Würden Sie denn gerne mehr wissen über Ihre Gäste? Ihre Herkunft, ihre Flucht?
Urs: Wir würden eigentlich gerne mehr erfahren. Aber sie sind sehr zurückhaltend beim Erzählen. Vielleicht ist es das Sprachproblem. Manchmal bekomme ich auch den Eindruck, dass sie gar nicht gerne erzählen.
Regula: Wir wissen nicht, ob das stimmt.
Vielleicht müssen Sie mehr fragen?
Urs: Okay. Ja. Zu Beginn hat Oleksandr manchmal erzählt. Aber wenn er dann etwas über die Korruption in der Ukraine sagte, bekam er ein schlechtes Gewissen, weil er schlecht über sein Land redete. Dabei interessiere ich mich sehr dafür, was in der Ukraine passiert, ich informiere mich auch sehr genau. Ich würde gerne mehr erfahren. Aber ich will sie auch nicht bedrängen mit meinen Fragen.
«Menschen wie sie habe ich zuvor nie getroffen.»
Oleksandr, Ihre Gastgeber sagen, sie würden gerne mehr über Sie und die Ukraine erfahren.
Oleksandr: Sicherlich sollten wir mehr erzählen. Aber das ist nicht so einfach. Einerseits ist da die Sprachbarriere. Ich lerne Deutsch, aber es reicht bisher nur für einfache Sätze. Wenn Urs und Regula reden, verstehe ich, um was es geht. Aber keine Details. So unterhalten wir uns in gebrochenem Englisch. Da entsteht kein Dialog.
Was würden Sie Ihren Gastgebern gerne erzählen?
Oleksandr: Ich würde Urs und Regula gerne sagen, dass sie für uns zur Familie geworden sind. Menschen wie sie habe ich zuvor nie getroffen. Ich weiss ja, dass sie zuvor auch einzelne Flüchtlinge aufgenommen haben. Aber wir sind die erste Familie. Das ist gross. Ich finde auch in meiner Muttersprache kaum Worte, um meine Emotionen auszudrücken.
Wann sind Sie auf den Gedanken gekommen, eine ukrainische Familie bei sich aufzunehmen? Waren es die Nachrichten vom 24. Februar…?
Regula und Urs (gleichzeitig): …ja!
Regula: Es war wirklich sofort klar. Wir haben eigentlich immer Gäste bei uns gehabt. Vor allem Austauschstudentinnen und -studenten, immer, seit wir hier wohnen. In der Situation des Kriegs wollten wir auch einen kleinen Beitrag leisten.
Sie haben uns erzählt, dass auch Freunde und Bekannte von Ihnen ukrainische Geflüchtete aufgenommen haben. Was berichten sie?
Urs: Die meisten Familien leben mit ihren Gästen in viel engeren Verhältnissen als wir. Und je enger die Verhältnisse, desto anspruchsvoller ist das Zusammenleben.
Was für Probleme gibt es?
Urs: Dass es irgendwie nicht zusammenpasst. Wir hörten von Gastgebern, die das Gefühl hatten, viel gegeben und nichts zurückbekommen zu haben. Sie fühlten sich ausgenutzt.
Regula: Oder dass sie sich nicht auf ihre Gäste verlassen konnten. Es gab einen Fall, da fuhren die Gastgeber in die Ferien und baten die ukrainischen Gäste, auf ihr Aquarium aufzupassen. Als sie zurückkamen, waren alle Fische tot. Wir kennen aber auch ein Beispiel einer alleinstehenden Frau, die eine ukrainische Mutter und deren Tochter aufnahm. Sie kommen wunderbar miteinander aus – trotz enger Wohnverhältnisse.
«Eine Perspektive zu haben, eine Zukunft zu haben – das ist das Allerwichtigste.»
Wir stellen uns dieses Leben wie in einer Studenten-WG vor: Man nervt sich auch mal, weil es so eng ist.
Urs: Unsere Gäste sind sehr rücksichtsvoll. Sie tun sehr viel, um uns nicht zur Last zu fallen. Manchmal fast zu viel.
Regula: Es war noch nie eine Last.
Urs: Nein. Wir leben hier ja auch ein bisschen wie in einer heilen Welt. Der Krieg dort, all das Elend, das ist weit weg.
Regula: Für sie ist es natürlich viel näher!
Urs: Das stimmt, ja. Sie leben hier und sind gleichzeitig auch mit der Ukraine verbunden. Sie sind ja auch sehr oft am Telefonieren.
Wo sehen Sie für die Gastgeber, aber auch für Ukrainerinnen und Ukrainer die grössten Herausforderungen?
Regula: Ich glaube, das Schwierigste ist, dass sie nicht wissen, wie es in fünf Monaten für sie aussehen wird. Oder in einem Jahr. Eine Perspektive zu haben, eine Zukunft zu haben – das ist das Allerwichtigste. Nicht zu wissen, was in einem Jahr ist, was in einem halben Jahr ist, das ist schon sehr belastend. Und das ist auch etwas, das wir durch das Zusammenleben gelernt haben. Nur schon dieses Nicht-Wissen, was die Zukunft bringt, das ist…
Urs: … eine Situation, die wir selber nie erlebt haben.
Oleksandr und Dascha, wie geht es Ihnen heute in der Schweiz?
Oleksandr: Die Schweiz hilft uns, und wir sind dafür sehr dankbar. Aber wir werden niemals Schweizer sein, wir sind Ukrainer.
Sie wollen zurück in die Ukraine?
Dascha: Wir haben ja niemals daran gedacht, die Ukraine zu verlassen. Andere planten schon lange vor dem Krieg ihre Emigration. Wir redeten nur darüber. Aber wollten nie weg. Und natürlich will ich jetzt nach Hause.
Damir: Und ich auch!
Oleksandr: Wir könnten unsere Sachen packen und fahren. Aber wir könnten nicht zurück in unser altes Leben. Unsere Wohnung in Dnipro ist weg. Auch mein ehemaliger Arbeitgeber ist mittlerweile im Ausland. Ich hätte also keinen Job und könnte meine Familie nicht ernähren. In der Ukraine kannst du jetzt nur Geld verdienen, wenn du Soldat bist. Ich würde gerne in der Ukraine leben, aber in europäischen Verhältnissen: sodass mein Sohn in die Schule kann, die Chance auf eine gute Ausbildung hat. Dass die medizinische Versorgung funktioniert.
«Ich wundere mich immer, dass hier noch Briefe und Rechnungen mit der Post geliefert werden. Auf Papier!»
Wo fallen Ihnen die Unterschiede zwischen der Schweiz und der Ukraine am stärksten auf?
Oleksandr: Einen ganz grossen Unterschied bemerke ich bei den älteren Menschen. Wenn ich hier Pensionären begegne, dann sehen sie zufrieden aus. Ich freue mich für sie. Wenn ich alte Menschen in der Ukraine gesehen habe, hätte ich am liebsten geweint. Viele können sich nicht einmal mehr Brot leisten, so klein ist ihre Rente. Und wenn sie krank werden, ist das oft schon ihr Todesurteil. In der Schweiz wäre das doch nicht möglich, oder?
Dascha: Andererseits wundere ich mich immer, dass hier noch Briefe und Rechnungen mit der Post geliefert werden. Auf Papier! In der Ukraine geschieht das schon längst alles auf elektronischem Weg.
Sie haben in der Schweiz eine Arbeit gefunden?
Dascha: Ja, ich arbeite in einem Kosmetikgeschäft. Drei Tage pro Woche. Ich habe diese Arbeit schon in der Ukraine gemacht und ich liebe sie. Es lenkt mich ab. Wenn ich am Arbeiten bin, denke ich nur an die Arbeit, an nichts anderes.
Oleksandr: Ich war in der Ukraine Fahrer und habe mich um die familiären Angelegenheiten eines sehr reichen Mannes gekümmert. Den Namen kann ich nicht sagen, weil er bekannt ist. Hier in der Schweiz bin ich Hausmann. Ich kann für die Menschen da sein, die ich am meisten liebe: Dascha und Damir. Das gefällt mir. Aber natürlich ist das keine langfristige Perspektive.
Wie könnte die aussehen?
Oleksandr: Ich brauche auch eine Arbeit. Und wir müssen eine Perspektive für Damir finden. Er ist ein sehr emotionales Kind. Er spricht Deutsch im Kindergarten, aber das ist wohl nicht genug. Wir haben auch eine Lehrerin in der Ukraine gefunden, die online Deutsch unterrichtet. Damir hat auch viele Freunde im Kindergarten.
Damir: Ja! Nicolas, Frida, Anouk, Julia, Maximilian…
Sie sind also in der Schweiz angekommen?
Oleksandr: Wir sind jetzt fast ein Jahr hier. Aber sind wir wirklich angekommen? 2014 waren wir in einer ähnlichen Situation. Damals mussten wir aus der Ostukraine nach Dnipro flüchten. Die ersten zwei Jahre haben wir nur gewartet, dass der Krieg zu Ende geht und wir zurück nach Schachtjorsk können. Wir machten irgendwas, arbeiteten zwar, aber im Kopf waren wir immer noch zu Hause in Schachtjorsk. Wir dachten nicht, dass Dnipro unsere Zukunft wäre. Dann wurde Damir geboren und wir begriffen, dass wir wohl nicht mehr zurück können. Auch jetzt sehe ich in der Ukraine keine Bedingungen zur Rückkehr.
Sie wollen bei Regula und Urs bleiben?
Oleksandr: Wir wissen natürlich, dass wir hier nicht ewig bleiben können. Wir brauchen eine eigene Wohnung. Das wollen wir auch. Wir könnten dann auch Daschas Mutter zu uns in die Schweiz holen. Sie würde sich um Damir kümmern, und ich könnte eine Arbeit finden.
Urs: Ihr wolltet eigentlich mal nach Kanada. Nicht wahr, Oleksandr?
Oleksandr: Ich habe um ein Visum angesucht, aber ich wollte nie auswandern. Bloss konnte ich das Urs leider nicht erklären. Wir sind ja seit 2014 auf der Flucht, und als im Februar der Krieg begann, löste das den alten Reflex aus: Wir müssen weg, an einen sicheren Ort. Aber wo gibt es den noch auf diesem Planeten? Der Körper und der Geist sind ständig im Fluchtmodus, und für jede Entscheidung suchst du einen Backup-Plan, falls etwas schiefgeht. Das war in diesem Fall das kanadische Visum. Viele Ukrainer haben darum angesucht, doch kaum jemand wollte wirklich hin.
«Sie sind für uns keine Belastung.»
Regula Weber und Urs Hardegger: Wie lange dürfen Ihre ukrainischen Gäste bei Ihnen bleiben?
Regula (überlegt): Es eilt gar nicht… aber ich kann die Gedanken, die sie sich machen, sehr gut verstehen. Dass sie immer am Suchen sind und sich fragen: Was ist jetzt die beste Möglichkeit? Holen wir Damirs Grossmutter nach? Sie könnte zu ihm schauen, während die Eltern arbeiten. Sie haben uns schon einmal gefragt, ob Daschas Mutter vorübergehend auch hier wohnen könnte.
Ginge das für Sie?
Regula: Wir haben ihnen gesagt, ja, grundsätzlich schon, wir müssten einfach darüber sprechen. Aber bisher sind sie nicht mehr darauf zurückgekommen. Wir haben uns eigentlich nie gesagt, sie dürften nur drei Monate bleiben. Oder ein Jahr. Wenn es gut läuft, läuft es gut – dann dürfen sie bleiben, solange es für sie passt.
Urs: Sie sagen oft, dass sie uns nicht belasten wollen. Man hat das Gefühl, dass sie hier fast ein bisschen unsichtbar sein möchten. Das wäre für uns gar nicht nötig. Wir empfinden es gar nicht so. Sie sind für uns keine Belastung.
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