Kolumne «Fast verliebt»Hochstaplerinnen-Syndrom
Warum es nicht herzig oder bescheiden ist, wenn man nicht an sich selbst glaubt, sondern ein Problem — vor allem in Beziehungen.
Meine Freundin ist zuverlässig und will immer aufrichtig wissen, wie es einem geht. Kein Geburtstag ohne ihren selbst gebackenen Marmorkuchen. Keine Tanzfläche, die sie nicht als eine der Letzten verlässt. Ihre stabilen Qualitäten bleiben nicht unerkannt: Vom Heiratsmarkt wurde sie früh weggeheiratet, im Büro wird sie durchbefördert. Aber sie hat nicht nur eine Schulter zum Anlehnen und einen breitflächig belastbaren Rücken: Sie hat auch ein Mundwerk, das manchmal giftig wird. Mit Vorliebe entlädt es sich an ihrem Mann.
«Brauchst du eine schriftliche Einladung?», fragte sie ihn in der Küche, als ich zugegen war. Er sollte sich mit der gemeinsamen Tochter um die Matheaufgaben kümmern. Ihr Tonfall war nicht nur für ihn extrem unangenehm. Als er raus war, fragte ich sie, ob eigentlich alles okay sei bei ihr. Kurz sah sie mich wütend an, dann seufzte sie. «Sorry, aber es ist einfach alles zu viel gerade», meinte sie, «ich komme nicht so gut klar im Moment.»
Das wäre eine Erklärung. Nur sagt sie diesen Satz schon seit dem Studium. Und da war eigentlich nicht viel los. Es scheint keinen Unterschied zu machen, ob sie ein kleines Protokoll im Rahmen eines Praktikums abgeben muss, wie damals, oder ob ihr ein wirklich wichtiges Audit bevorsteht, wie heute: Sie ist gestresst. Grundsätzlich. Dabei scheint meine Freundin immer besonders gut klarzukommen: geleckte Wohnung, brave Tochter, vitale Ehe. Also, wenn sie ihren Mann gerade nicht angiftet. Was sie leider immer häufiger tut.
Obwohl ihre Vorgesetzten sehr zufrieden sind, scheint meine Freundin ihre letzte Beförderung von der Stellvertreterin zur Abteilungsleiterin besonders schlecht weggesteckt zu haben. «Meine Eltern verstehen gar nicht, warum ich so viel Geld verdiene, obwohl ich keine Schwielen an den Händen habe», erzählte sie in ihrer Küche, und es klang ein bisschen herablassend. Die wüssten nicht mal, was ihre Firma eigentlich produziere. Sie lachte, wirkte aber kurz darauf unsicher: «Manchmal habe ich das ungute Gefühl, eine Hochstaplerin zu sein.» Sie schaute mich fragend an, als erwarte sie jetzt ernsthaft ein Urteil von mir: Hochstaplerin oder nicht? Dabei ist die Frage absurd. So gut, wie sie ist.
Dafür, dass sie nicht an sich selbst glaubt, hat sie es erstaunlich weit gebracht.
Meine Freundin war die Erste in ihrer Familie, die studiert hat. Manchmal wirkt es, als wäre ihr sozialer Aufstieg ein Schreck, den sie nicht verdaut kriegt. Während manche Menschen mit grosser Selbstgerechtigkeit aufsteigen, hat meine Freundin trotz aller Mühen stets das Gefühl, es nicht verdient zu haben. Dafür, dass sie nicht an sich selbst glaubt, hat sie es erstaunlich weit gebracht. Nur scheint sie langsam eine Kletterhöhe zu erreichen, bei der ihr endgültig der Kopf platzt, wenn sie nicht damit anfängt.
Wie schwer kann es sein? Bis auf sie selbst glaubt eigentlich jeder an sie.
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