Zum Tod von Joan DidionHippies, Tod und Kinder auf LSD
Joan Didion gehörte wegen ihrer Faszination für Chaos und Schmerz zu den wichtigsten literarischen Stimmen des zwanzigsten Jahrhunderts. Drei Gründe, warum sie heute aktueller denn je ist.
Wenn Sie noch nie von Joan Didion gehört haben, dann ist es höchste Zeit, dass Sie sie kennen lernen. Bis heute ist ihre mit intellektueller Schärfe gepaarte Beobachtungsgabe unerreicht. Sie war eine Chirurgin der Sprache, goss präzise Beobachtungen in Sätze, die sich einprägen, einen verfolgen. So die ersten Sätze in ihrem berühmtesten Buch «Das Jahr des magischen Denkens»:
«Das Leben ändert sich schnell.
Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf.
Die Frage des Selbstmitleids.»
Wie mit dem Skalpell legte sie die Innereien der Phänomene frei, denen sie sich widmete. Sie war eine furchtlose Autorin, und zwar gleich mehrfach. Sie schrieb über das, was sie sah und wie sie es sah, ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten, auch nicht ihre eigenen. Sie beugte sich nie dem Wunsch zu gefallen, im Gegenteil erschien ihr das als eine der grössten Sünden, die ein Autor oder eine Journalistin begehen konnten. Über den Journalismus in Washington etwa schrieb sie: Hier «bedeutet ‹Fairness› oft eine gründliche Passivität, eine Übereinkunft, die Geschichte nicht so abzudecken, wie sie sich ereignet, sondern wie sie präsentiert wird, d. h. wie sie hergestellt wird». Ein Versäumnis, das heute noch genauso zu beklagen ist.
1. Was muss man von ihr kennen?
Ihre Essaysammlung «Slouching Towards Bethlehem», 1967 in der «Saturday Evening Post» erschienen, ist eine der düstersten Reflexionen zur amerikanischen Hippiekultur, die je geschrieben wurden. Sie porträtierte Schulabbrecher, Dichter und Hare Krishnas, die auf der Suche nach freier Liebe, alternativer Lebenskultur und Drogen in Haight-Ashbury gestrandet waren. Darin geht es auch um ein fünfjähriges Mädchen, dem die Eltern LSD verabreicht hatten. Ein Kritiker schrieb dazu, Didion sei eine coole, aber nicht hartherzige Beobachterin.
Ihr berühmtestes – und vielleicht berührendstes – Werk dürfte aber ihr Buch «Das Jahr des magischen Denkens» aus dem Jahr 2005 sein, in dem die damals 71-Jährige den plötzlichen Herztod ihres Gatten und die tödliche Krankheit ihrer Tochter verarbeitete. Die Reflexion über den Umgang mit dem Tod und dem Schicksal Hinterbliebener wurde zum Bestseller, als Theaterstück adaptiert, und sie gewann dafür schliesslich den Pulitzerpreis. Bekannt ist auch der Film «The Panic in Needle Park», zu dem sie das Drehbuch schrieb und das Al Pacino seinen ersten Leinwandauftritt bescherte. Zusammen mit ihrem Mann schrieb sie auch das Drehbuch zum Film «A Star Is Born» aus dem Jahr 1976 mit Barbra Streisand und Kris Kristofferson. Schliesslich verewigte ihr Neffe Griffin Dunne seine weltberühmte Tante 2017 im Film «Die Mitte wird nicht halten».
2. Was ist ihre historische Bedeutung?
Didion schrieb sich mit ihren präzisen Essays auf die literarische Landkarte Amerikas – und gilt als eine der grössten Vertreterinnen des sogenannten New Journalism. Dieser enorm persönliche Reportagestil der Sechziger- und Siebzigerjahre artikuliert die Subjektivität des Reporters mit literarischen Mitteln und lässt ihn so zu einem Teil der Geschichte werden. Sonst ein Tummelfeld für Grossmäuler, Dandys und Haudegen wie Hunter S. Thompson, Tom Wolfe oder Norman Mailer, brauchte die kleine und sehr schmale Didion den Vergleich mit diesen Männern nicht zu fürchten. Sie wirkte zerbrechlich, war aber so mutig wie hartnäckig, mit einer Schwäche für die Band The Doors und den Schauspieler John Wayne, über den sie auch schrieb. Gerade ihre schmale Statur, schrieb sie einmal, habe den Effekt gehabt, dass die Objekte ihrer Beobachtung schnell vergassen, dass sie überhaupt anwesend war. Oder sie erzählten ihr Dinge, die preiszugeben nicht in ihrem Interesse lag. Ihre wiederkehrenden Themen sind denn auch Gewalt, Chaos und das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.
3. Warum ist sie heute noch wichtig?
Didion beherrschte die Kunst, ihre eigene Subjektivität als Erzählerin mit zu reflektieren. Nicht im Sinne narzisstischer Selbstreflexion, sondern als Akt der Fairness: Indem sie sich als Erzählerin nicht nur sichtbar macht, sondern wirklich entblösst, gibt sie gleichzeitig auch den Filter ihrer Beobachtung preis. Ihr war stets bewusst, dass der Akt des Schreibens, des Reportings, immer gefärbt ist. Sie schrieb: «Schreiben ist in vielen Hinsichten der Akt des Ich-Sagens, des Sich-selbst-anderen-Auferlegens, zu sagen: Hör mir zu, sieh es so wie ich, ändere deine Meinung. Es ist ein aggressiver, ja feindlicher Akt.» Diese radikale Transparenz, ihre Skepsis gegenüber dem Mainstream, ihre stete Suche nach der Person, der Beobachtung, der Situation, die die andere Geschichte erzählt, machen ihre Texte einzigartig.
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