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Musik-Podcast  «Switched On Pop»
Hier wird sogar ein Justin-Bieber-Song zum Kunstwerk erklärt

Ein Song als faszinierendes Gesamtkunstwerk: Justin Bieber bei einer Show in Malmö..
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Eine der jüngsten Folgen des amerikanischen Podcasts «Switched On Pop» ist so spannend, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt. Es ist sowieso ein aussergewöhnlich hörenswerter Podcast, in dem nicht einfach nur Zeit totgeplaudert wird wie sonst so oft, sondern die Hörer fundiertes Wissen über Popmusik geschenkt bekommen. Und was es da nicht alles zu erfahren gibt.

Moderiert wird er von zwei Experten – einem Musikwissenschaftler, Nate Sloan, und einem Songwriter, Charlie Harding, die mit ihrem zusammengenommenen Wissen Phänomene der Popmusik erforschen oder auch einfach mal nur einzelne Songs. Sie gehen dabei mit detektivischer Neugierde vor, versuchen, sich auch selbst zu erklären, wie etwas instrumentiert ist, decken abwegige Harmoniewechsel auf (und erklären sie so, dass es auch Laien verstehen), erzählen sich gegenseitig und ihren Hörern die Entstehungsgeschichten berühmter oder vergessener Songs oder liefern sonstige Hintergrundinformation. Gelegentlich ziehen sie weitere Experten zu Rat, die über irgendein Detail mehr wissen.

«Cotton Eye Joe» von Rednex war ursprünglich das Lied von Sklaven

Der ganze Podcast ist ein Beleg für die alte These, dass im Grunde wirklich alles interessant ist – wenn man es nur genau genug untersucht. Sogar ein Justin-Bieber-Song wird, wenn Harding und Sloan sich seiner annehmen, zu einem faszinierenden Gesamtkunstwerk, das man niemals wieder im Autoradio reflexhaft wegschalten wird. Sein Song «Peaches» etwa ist nicht, wie man bei flüchtigem Hören annehmen könnte, ein entspannt bekifftes romantisches Liebeslied, oder jedenfalls nicht nur, sondern handelt von Biebers Liebe zu Gott, wie einer Folge zu entnehmen war, in der es um den immer grösser werdenden Erfolg christlicher Musik in den amerikanischen Charts geht.

Wer findet, dass Popmusik heute generisch und seelenlos klingt, und dass man all die Sängerinnen und Sänger sowieso nicht mehr voneinander unterscheiden kann, höre sich eine Podcastfolge aus dem Jahr 2019 an, in der es um Autotune geht, die Software, die Gesang zu reiner Tonhöhe macht, die sich rauf oder runter modulieren lässt. Egal, wie schlimm man diesen Effekt findet, den Cher 1998 mit ihrem Hit «Believe» bekannt machte – es gibt darüber wahnsinnig spannende Dinge zu erfahren. Angefangen damit, dass Autotune von einem klassisch ausgebildeten Flötisten namens Andy Hildebrand erfunden wurde, der zuvor für die Firma Exxon eine Methode zum Aufspüren von Ölvorkommnissen entwickelt hatte.

Wissenswertes über einen der meistverwendeten Effekte der Musikgeschichte: Autotune in Chers «Believe».

Eine andere Folge befasst sich mit einem der nervigsten Hits aller Zeiten: «Cotton Eye Joe», 1994 auf die Welt losgelassen von der schwedischen Band Rednex. Wer diesen Titel je gehört hat, hat ihn jetzt direkt wieder im Ohr, dafür Verzeihung, diese grauenhafte Mischung aus hochgepitchtem Country, Euro-Dance, Staccato-Gesang und sinnlosem Gefiedel. Im Podcast war zu erfahren, dass das Lied ursprünglich ein Sklavensong aus den amerikanischen Südstaaten war, geschrieben irgendwann zwischen 1800 und 1861. Aus heutiger Sicht unbegreiflich, dass Rednex damals in Fernsehshows tatsächlich vor der konföderierten Flagge herumhampelten.

Die beiden Moderatoren unterscheiden sich für den Hörer nicht merklich. Beide haben angenehme Stimmen und verfügen über extremes Nerd-Wissen im besten Sinne. Niemals machen sie den Fehler, der gerade auf dem Gebiet der Popmusik so häufig gemacht wird, eigene Euphorie bereits für ein Argument zu halten. Man liest ja andauernd irgendwo, dass ein Song «zum Tanzen anregt», als würde das irgendetwas anderes beschreiben als den Musikgeschmack des jeweiligen Verfassers. Gerade weil Popmusik oft so eingängig ist, so leicht zu mögen oder zu hassen, ist dieses Genre für Rezensenten wahnsinnig schwer. Hier haben Sloan und Harding den unschlagbaren Vorteil, Amerikaner zu sein, also in einem Land aufgewachsen zu sein, in dem Unterhaltung ernst genommen wird. Sie sind selbst dann analytisch und genau, wenn sie erkennbar Fans sind.

Nie machen die Moderatoren den Fehler, Euphorie für ein Argument zu halten.

Ihre amerikanische Herkunft dürfte auch erklären, warum sie sich dem Phänomen ABBA nicht mit der in Europa herrschenden Begeisterung nähern, sondern mit Befremden: Wie kommt es, dass eine solch schräge Musik derart erfolgreich ist? Überhaupt nennen sie, was für ihre Ohren ungewohnt oder sogar ein bisschen lächerlich klingt, gerne «very Eurovision».

Sehr zu empfehlen ist auch eine Folge über die spanische Sängerin Rosalía, die ab ihrem 14. Lebensjahr eine klassische Flamenco-Gesangsausbildung bei einem der bekanntesten Flamenco-Gesangslehrer Spaniens absolvierte und heute sehr erfolgreich Elektropop macht. In der Folge über sie ist viel über Metrik zu lernen. Rosaliá wechselt in ihren Songs bisweilen zwischen Zwölf- und Zehn-Achtel-Takt hin und her, was wahnsinnig kompliziert ist und im Podcast durch konzentriertes lautes Mit-Zählen verdeutlicht wird. Danach wird man Rosalià, sollte man es je getan haben, jedenfalls nicht mehr als hübsches Pop-Mädchen abtun.

Erkenntnisse, die eine ältere Person gern früher gehabt hätte

Ein anderes Mal ging es um das Rätsel, warum ausgerechnet «Happy Birthday» sich derart durchsetzen konnte. Gleich vier Folgen beschäftigten sich mit Britney Spears. Und neulich ging es darum, dass Beyoncé und Drake gerade ein Comeback von House Music einläuten, was angesichts von Weltlage und allgemeiner Gemütsverfassung eine sehr gute Nachricht ist, denn hymnischer hat nie eine andere Popmusik-Gattung widrigen Umständen getrotzt.

Und dann gab es eben Anfang Juli eine Folge, die man sich wirklich selbst anhören sollte (leider nur auf Englisch). Das Thema ist ausgefallen, und die ganze Geschichte hat so viele verrückte Wendungen, dass sie klingt wie ausgedacht. Es geht um einen Song aus dem Jahr 1999 mit dem Titel «Everybody's Free (To Wear Sunscreen)» von Baz Luhrmann, dem australischer Regisseur von Filmen wie «Romeo + Julia», «Moulin Rouge» oder zuletzt «Elvis». Im Song spricht ein Mann Text über einen wolkigen Klangteppich aus Synthesizer-Harmonien, Knabenchor und Drum-Computer. Es sind gesammelte Lebensweisheiten im Stile einer College-Abschluss-Rede. 1999 geisterten sie durchs World Wide Web als angeblicher «MIT-Commencement-Speech» von Kurt Vonnegut. Das stimmte aber nicht – es war ein früher Internet-Hoax.

Und wenn es nur ein einziger Rat sein solle, dann dieser: «Benutzt Sonnencreme!»

In Wahrheit stammte der Text von einer Journalistin namens Mary Schmich, die ihn 1997 in der «Chicago Times» veröffentlicht hatte: Einsichten, die eine ältere Person gerne früher gehabt hätte, weitergegeben an die Jugend. Man solle jeden Tag etwas tun, wovor man Angst hat. Sich an Komplimente erinnern und Beleidigungen vergessen (und wenn einem dies gelänge, möge man bitte ausrichten, wie). Man solle nett zu seinen Geschwistern sein, eines Tages seien sie der beste Draht zur Vergangenheit. Zahnseide benutzen. Singen. Keine Zeit an Eifersucht verschwenden... Und wenn es nur ein einziger Rat sein solle, dann dieser: «Benutzt Sonnencreme!»

Füllt gleich vier Folgen von «Switched on Pop»: Britney Spears.

Kann man natürlich als Kitsch abtun, ist aber tatsächlich sehr rührend, was in der musikalischen Version noch verstärkt wird durch den Knabenchor, der leise und ins Choralhafte verlangsamt den Refrain des Neunziger-Jahre-Dancehits «Everybody's Free (To Feel Good)» nachsingt. (Auch darauf wäre man ohne den Podcast niemals gekommen.)

Auf den Song kamen die Moderatoren durch eine Hörerin, die ihn als Neunjährige auf einem Sampler entdeckt hatte und damals, als Kind, rauf und runter spielte. Seither, ihr ganzes Leben also, dienen ihr die Ratschläge aus dem Song als Kompass durchs Leben. Sie sind in ihrem Langzeitgedächtnis gespeichert, und es gäbe, sagt sie, keine Notlage, in der ihr Baz Luhrmanns «Everybodys's Free (To Wear Suncreen)» nicht hätte helfen können. Ist das nicht unglaublich? Was ein Popsong leisten kann?

Und auf einmal bekommt der Song eine andere Farbe, klingt tiefer, wärmer, nach einer ganz anderen Welt.

Die Stimme im Song gehört übrigens einem Stimmenimitator. Obwohl Luhrmann wusste, dass nicht Vonnegut den Text geschrieben hatte, sondern Mary Schmich, spielte er bewusst mit dem Hoax, engagierte einen australischen Stimmenimitator namens Lee Perry und gab ihm den Auftrag, so zu sprechen wie Kurt Vonnegut. Zu den vielen weiteren faszinierenden Anekdoten, die der Podcast zu bieten hat, gehört selbstverständlich, man ahnt es, noch eine Verwechslung mit der Reggae-Legende Lee «Scratch» Perry.

Zuletzt kommt die Frage auf, wie es gewesen wäre, hätte eine Frauenstimme den Text gesprochen und nicht ein Mann, der klang wie ein berühmter anderer Mann. Ob der Song, der in einigen Ländern in den Charts war und von dem es 1999 sogar eine deutsche Version gab («Sonnencreme», gesprochen von Dieter Brandecker) auch dann seinen Weg um die Welt gemacht hätte, wären die Ratschläge hörbar von einer Frau gekommen?

Und dann rufen die Moderatoren Mary Schmich an, und die liest ihren eigenen Text über Luhrmanns Musik-Collage. Und auf einmal bekommt der Song eine andere Farbe, klingt tiefer, wärmer, nach einer ganz anderen Welt.

Zu finden auf Apple Podcasts, Spotify oder switchedonpop.com