Trekking-Tour in die UrzeitHier oben wurde Ötzi ermordet
Alpine Wanderung im Grenzgebiet zwischen Österreich und Italien, wo vor 31 Jahren Ötzi entdeckt wurde, die mumifizierte Leiche eines Steinzeitmannes. Der Fundort ist auch ein Tatort.

Die Sonne brennt vom leuchtend blauen Himmel. Vor gut zwei Stunden haben wir frühmorgens die trutzburgähnliche Martin-Busch-Hütte verlassen und steigen nun eine steile Gerölllandschaft hoch, die die zurückweichenden Gletscher hinterlassen haben.

Die Luft auf knapp 3000 Metern wird dünn und dünner. Wir keuchen, unsere Schritte werden mit jedem gewonnenen Höhenmeter langsamer. Doch der Blick nach oben zeigt: Weit kann es nicht mehr sein. Noch ein Schneefeld queren. Noch ein paar Stein- und Felsbrocken überwinden.

Und dann stehen wir auf einmal auf dem Tisenjoch vor dem pyramidenförmigen Monument, das ein paar Meter neben der Fundstelle errichtet wurde. Hier oben auf 3200 Metern wurde sie also vor 31 Jahren per Zufall von einem deutschen Ehepaar im tauenden Eis entdeckt – die mumifizierte Leiche eines Mannes, der später als Ötzi weltberühmt werden sollte.
Ein herrlicher Rundblick zum nahen, mächtigen Similaun-Gipfel und über zig Tiroler und Südtiroler 3000er. Einen schönen Ort hat sich Ötzi vor mehr als 5300 Jahren zum Sterben ausgesucht. Wobei, der «Mann aus dem Eis» hatte weit weniger schönes Wetter als wir. Und er hat hier oben nicht den Tod gefunden. Der Tod hat ihn gefunden. Er wurde ermordet. Hinterrücks. Doch der Reihe nach.
Wir befinden uns auf dem sogenannten Ötzi-Trek, einer alpinen Fernwanderung von Landeck im Tirol nach Bozen im Südtirol, die der österreichische Veranstalter ASI Reisen bereits im Sommer 2021 zum 30-Jahr-Jubiläum des Fundes ins Programm nehmen wollte, wegen Corona aber um ein Jahr verschieben musste.
Anstrengend trotz Gepäcktransport
Es handelt sich um eine individuelle Tour mit Gepäcktransport. Will heissen: Gewandert wird ohne Guide, dafür mithilfe eines gedruckten Tourbuchs und einer App, während das Gepäck per Taxi von Unterkunft zu Unterkunft reist. Tönt bequem. Ist es auch.
Trotzdem: Die Tour auf «Ötzis Spuren», die unter anderem auf alten Kelten- und Handelswegen durch mystische Moorlandschaften, zu geheimnisvollen Opferplätzen und urzeitlichen Jägerunterschlüpfen sowie über einsame, hochalpine Übergänge führt, ist kein Honigschlecken und nur für geübte Berggängerinnen und -gänger zu empfehlen. Denn die vielen Höhenmeter und die teils doch recht ambitioniert langen Tagesetappen gehen an die Substanz. Und auf einigen ausgesetzten Teilstücken sollte man besser nicht nur trittsicher, sondern auch schwindelfrei sein.

Bei aller Anstrengung und dem einen oder anderen Adrenalinschub auf schmalem Grat: Spätestens am Ende der Wanderwoche beim Besuch des Südtiroler Archäologiemuseums von Bozen, wo Ötzis mumifizierte Leiche eingehend untersucht wurde und nun in einer Kältekammer ausgestellt ist, wird uns bewusst, dass unsere Tour vergleichsweise eben doch ein Honigschlecken war.

Wir waren mit sicheren, bequemen Bergschuhen unterwegs, Ötzi hatte einfaches Schuhwerk aus Lindenbast und Bärenfell mit einer Isolierschicht aus Heu an den Füssen.
Wir trugen schnell trocknende Funktionsunterwäsche und Goretex-Regenjacken, Ötzi einen Lendenschurz aus Schaffell, Beinlinge aus Ziegenfell und einen Regenumhang aus geflochtenem Süssgras.
Wir übernachteten und stärkten uns in 3- oder 4-Stern-Hotels, Ötzi schlief unterwegs vorwiegend im Freien und trug eine Dose aus Birkenrinde als Glutbehälter bei sich, um bei Bedarf ein wärmendes Feuer entfachen zu können.
Unsere leichten Tagesrucksäcke waren nur mit Handy, etwas Wasser, Snacks und Wechselkleidung gefüllt, Ötzi schleppte sein ganzes Hab und Gut mithilfe einer grossen Rückentrage aus Hasel- und Arvenholz über die Alpen.
Und nicht zuletzt: Wir kraxelten zu unserem reinen Vergnügen über die Berge und brachten auch mal eine Wegstrecke mit Bus oder Bahn hinter uns, Ötzi, der nach heutigem Wissensstand die letzten Monate seines Lebens hauptsächlich im italienischen Schnalstal verbrachte, war wohl kaum als Tourist unterwegs, sondern möglicherweise als Kupferhändler, als Hirte oder als Krieger.

Auf jeden Fall dürften die letzten Stunden seines Lebens – Ötzi starb im für damalige Verhältnisse sehr hohen Alter von 46 Jahren – ein schierer Stress gewesen sein.
Pfeilattacke von hinten
Anders als wir, die bei Prachtwetter auf dem Tisenjoch sitzen, uns die Julisonne auf den Nacken scheinen lassen und uns vor dem Abstieg zu unserem 1700 Höhenmeter weiter unten liegenden nächsten Hotel im Schnalstaler Örtchen Unser Frau eine lange Pause gönnen, muss Ötzi hier oben bei strubem Wetter in einen Kampf verwickelt gewesen sein. Darauf deutet eine tiefe Schnittverletzung an der linken Hand hin. Weniger offensichtlich ist eine andere Verletzung, die erst zehn Jahre nach dem Fund der Mumie per Zufall bei einer Röntgenuntersuchung entdeckt wurde: In Ötzis linker Schulter steckt eine steinerne Pfeilspitze. Der Pfeil muss von hinten aus einer Entfernung von rund 30 Metern abgeschossen worden sein.
Führte die Pfeilattacke zu Ötzis sofortigem Tod oder schwächte sie ihn so, dass er die folgende eiskalte Nacht nicht überlebte? Obschon Ötzi die wohl am intensivsten untersuchte Leiche der Welt ist, wird man diese Fragen kaum je beantworten können. Ebenso wenig wie die Fragen nach dem Täter und dem Motiv.
Auf dem gefühlt ewig langen Abstieg vom Tisenjoch ins Schnalstal haben wir mehr als genügend Zeit, über den urzeitlichen Mordfall nachzudenken. Wurde Ötzi Opfer eines Raubüberfalls? Ging es um einen Streit unter Schafhirten? Hatte er jemanden in seiner Ehre verletzt? Wurde er von einem eifersüchtigen Nebenbuhler getötet?
Kurz vor Unser Frau reisst uns ein Problem aus unseren Gedanken. Ein modernes Problem, das Ötzi kaum je gehabt haben wird: Mitten auf dem Wanderweg liegt eine Kuh – und zwar so nah am Gatter, dass dieses nicht geöffnet werden kann. Sie wirkt zwar gutmütig, ist aber renitent. Nun haben auch wir ziemlichen Stress, meiden aber nach vergeblichem gutem Zureden die Konfrontation und suchen – einmal mehr froh, nur mit leichtem Gepäck unterwegs zu sein – eine geeignete Stelle, um den hohen Zaun zu überklettern.

Die Reise wurde unterstützt von ASI Reisen.
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