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Meinung

Herzensgute Todesanzeigen
Was schreibt man, wenn jemand kein erfülltes Leben hatte?

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Ich bin jetzt in dem Alter, in dem man die Todesanzeigen liest. Dabei fällt mir auf, dass die Menschen, die betrauert werden, alle ungefähr das gleiche Leben geführt haben müssen, nämlich ein reich erfülltes. Die Trauernden sind alle traurig, aber dankbar, das Dankbarsein soll wohl die Brutalität des Todes beschönigen. Und das erfüllte Leben, das offenbar jede und jeder gelebt hat, ist ein Wunschtraum und soll einen vielleicht von Schuldgefühlen befreien und von Zweifeln.

Wenn jemand kein erfülltes Leben hatte – was schreibt man dann? Sein Leben war leer und langweilig? Sicher nicht, niemals steht in Todesanzeigen etwas Negatives. Die Toten waren alle herzensgut, grosszügig, fürsorglich, mutig und tapfer. Wenn das Leben und die Menschen so wären, wie in den Anzeigen beschrieben, was für eine schöne Welt hätten wir dann. Natürlich schreibt man über Tote nichts Schlechtes, klar. Aber warum immer, mit wenigen Ausnahmen, dasselbe?

Manchmal kommt das Wort selbstbestimmt vor, was auf einen freiwilligen Tod hindeuten könnte. Das trifft mich immer besonders. Überhaupt weiss ich nicht, ob ich fähig wäre, eine Todesanzeige für einen nahen Menschen so zu formulieren, dass sie wirklich etwas mit ihm zu tun hat, mich keiner Stereotypen zu bedienen, denn in der Trauer und dem Schock greift man wohl gerne zu Hilfsmitteln wie diesen vorgefertigten Formulierungen.

Meine Mutter ging mit Exit aus dem Leben. Das heisst, sie wusste genau, an welchem Tag und zu welcher Stunde sie sterben würde. Das habe ich immer als sehr merkwürdig und unnatürlich empfunden. Aber durch diese Tatsache konnte sie alles, was sonst die Angehörigen erledigen, selbst bestimmen. Die Abdankungsfeier, ihren Nachlass, ihr Grab. Und natürlich auch die Todesanzeige. Wir sassen in ihrem verschnörkelten Wohnzimmer, tranken Tee, sie wollte, dass ich ihr beim Formulieren helfe, ich machte ihr ein paar Vorschläge – Stereotype, denn ich war hilflos und unsicher. Ich sagte: «In tiefer Trauer …» Sie sagte: «Hör doch mit dem blöden ‹tief› auf.» Ich sagte: «Du wirst uns fehlen.» Sie sagte: «Das glaubst du ja selber nicht.» Und so ging es weiter, nichts fand sie passend und ich im Grunde ja auch nicht.

Dann beklagte sie sich, dass in Todesanzeigen nie die Fehler eines Menschen stehen, und ich fragte sie, was für Fehler denn bei ihr so drinstehen könnten. Und meine Mutter, die niemals einen Fehler eingestanden hat, sagte: «Dass ich in Luxushotels manchmal Kleiderbügel gestohlen habe.» Was denken Sie: Hätte ich das damals in die Todesanzeige schreiben sollen?