Analyse zur Tour de FranceHelden für den Augenblick, die Abrechnung kommt später
An der Tour de France wurde das Leiden schon immer zelebriert. Dieses Jahr kam zur sportlichen Härte noch die Hitze der Klimakrise. Es stellt sich die Frage: Ist das noch Sport?
Mit Brecht-Zitaten als Wegzehrung kommt man ganz gut durchs Leben und durch die Tour de France. «Der grosse Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein», hat der Dramatiker geschrieben, und wer wollte diese Weisheit anzweifeln, der auch in diesem Jahr den hageren Pedaleuren dabei zusah, wie sie sich die Berge hochkämpften.
Die Tour der Leiden über 21 Etappen, inzwischen noch erschwert durch die Herausforderungen einer sich erhitzenden Welt. Auf dem Weg nach Carcassonne wurden diesmal 40 Grad Lufttemperatur gemessen, 60 Grad Asphalttemperatur. Von den Organisatoren wurde ein mit Sprühdüsen ausgestatteter Kühlwagen auf den Weg gebracht (gekühlt wurden die Strassen, nicht die Fahrer).
Die Organisatoren hätten auch die Etappe verkürzen können, aber Reduktion ist im Ablaufplan der Dinge nicht vorgesehen im Leistungssport, der – man hat davon gehört – ein Spiegel des Lebens ist. Die 109. Tour de France ist bewältigt, und wieder könnte man sie wegen ihrer übermenschlichen Anforderungen für aus der Zeit gefallen halten. Ist das eigentlich noch Sport? Das Peloton, vor Jahren gut durchgedopt, packt sich immer noch teilweise fragwürdige Nahrungsergänzungsmittel in die Satteltaschen und strampelt der untergehenden Sonne entgegen, während anderswo in Frankreich der Wald in Flammen aufgeht.
Das Leiden der Fahrer nährt den Mythos
Es gäbe genug Gründe, die Tour de France für erledigt zu erklären, schon nach den Dopingexzessen der Vergangenheit schien sie ein abgewirtschafteter Fall zu sein. Aber sie ist – wie vieles im Leben – ein Phänomen von ambivalentem Charme, und ihr Mythos ist widerstandsfähig. Auch bei dieser Tour hat man gesehen, was ihn nährt, den Mythos: die Bilder der leidenden Fahrer.
Sie sind Warnung und Werbung in einem. Da kämpft sich einer wieder ran, wie die Kommentatoren etwas zu euphorisch sagen. Da lässt er sich nicht abschütteln, da setzt er nach und gibt nicht auf. Während das dopingverseuchte Gewichtheben, in schwitzigen Hallen praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit zelebriert, an Bedeutung verloren hat, erfindet sich der nach wie vor dopingverdächtige Ausdauersport Radfahren im Licht der Kameras immer wieder neu, die Zuschauer lernen die Fahrer in stundenlangen Übertragungen kennen.
Und wenn die Reporter am Streckenrand erzählen, welcher Schaumwein hier und welcher Weichkäse dort produziert wird, entwickelt die Menschenschinderei Tour de France wenigstens am Fernseher ein Genussaroma.
Auch da ist die Tour, was sie immer war, sie produziert Helden für den Augenblick, die Abrechnung kommt später.
Die Euphorie, die sich um einzelne Fahrer und die Tour 2022 herum ausbreitete, fühlt sich trotz allem eigenartig an, jedenfalls für jemanden, der vor einem Vierteljahrhundert erlebt hat, wie sich die Euphorie um die Tour 1997 und Toursieger Jan «Ulle» Ullrich herum ausbreitete. Als später dessen Verstrickungen ins Dopingsystem offenbar wurden, stand Ulle allein da.
Auch da ist die Tour, was sie immer war, sie produziert Helden für den Augenblick, die Abrechnung kommt später. Man wünscht den Fahrern, dass sie dem gewachsen sind. Auch hierzu Brecht, mit dem man gut durchs Leben kommt und durch die Tour de France: «Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.»
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