Debatte über den DurstHauptsache, trinken? Blödsinn!
Sommer, Ausflugswetter, Hitze – da stellen sich viele Menschen wieder die Frage: Wie viel Wasser muss ich wirklich zu mir nehmen? Zwei Ärzte ordnen ein.
Telefongespräch mit Daniele Perucchini, leitendem Arzt des Blasenzentrums in Zürich und Privatdozent an der hiesigen Universität. Es ist 15.30 Uhr. «Herr Perucchini, wie viel haben Sie heute schon getrunken?» – «Am Morgen zwei Cappuccini, zum Mittagessen drei oder vier Deziliter Wasser. Dazu habe ich einen Gemüseteller gegessen. Das führt dem Körper auch Flüssigkeit zu. Es ist nicht sehr heiss, Durst hatte ich nicht. Sport habe ich noch nicht gemacht.»
Gegen Abend werde er noch ein paar Gläser Wasser trinken, sagt Perucchini. Aber dass man mehr Wasser trinken müsse, als der Körper verlange, dafür gebe es keinen einzigen wissenschaftlichen Beleg. «Folgen Sie einfach Ihrem Durstgefühl.»
Heilbringendes Wassertrinken?
Wenn Perucchini eine Vorlesung hält, projiziert er als Erstes ein Bild mit einem Kamel an die Wand. Das Tier kann in 10 Minuten 120 Liter Wasser tanken. Es ist anschliessend vielleicht zwei Tage in der Wüste unterwegs bis zur nächsten Oase. Ähnlich benehmen sich viele Studierende im Saal – als gebe es lange keine Wasserquelle mehr. Sie holen eine Mineralflasche aus dem Rucksack und stellen sie auf das Pult, nippen immer wieder daran. Bei den Schülern das Gleiche. Überall stehen im Unterricht Mineralwasserflaschen.
«Schaden tut das nicht», sagt Perucchini. «Es gibt aber auch keinen wissenschaftlichen Beleg, dass Vieltrinker schlauer sind.» Es gebe zwar Studien, die zeigen würden, dass die Konzentration etwas nachlasse, wenn man zwei Prozent des Körpergewichts an Flüssigkeit verloren habe. «Aber mit normalem Trinken in den Pausen holt man das sofort wieder auf. Es ist ja auch nicht so, dass wir um 9 Uhr dringend wieder essen müssen, um nicht zu verhungern.»
Viel Wasser als Beauty-Elixier?
Wasser, so heisst es in Lifestyle-Magazinen, erhöhe nicht nur die Gedächtnisleistung, stärke das Immunsystem und kurble den Stoffwechsel und die Verdauung an – es sei gar ein wahres Beauty-Elixier, das für straffere Haut und eine schlankere Figur sorge. «Auch dafür gibt es keine eindeutigen wissenschaftlichen Belege», sagt Perucchini. «Die Trinkmenge sollte man sich vom Durstgefühl vorgeben lassen und nicht von Gesundheitsaposteln.»
Der Durst sei ein ziemlich guter Indikator und führe dazu, dass man auf diesem Weg 1 bis 2 Liter Flüssigkeit zu sich nehme – was den Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung entspricht. «Man muss jetzt aber nicht immer mit dem Messbecher herumrennen. Einfach auf den Durst hören, dann funktioniert das in der Regel bestens.» Zudem: 2 Liter brauche eher eine grosse schwere Person, bei einer 1,60 grossen Frau, die 52 Kilo auf die Waage bringe, reichten auch 1,5 Liter.
Wer hat das Mantra der 2-Liter-Regel in die Welt gesetzt?
Das Food and Nutrition Board in Amerika gab 1945 die ersten Richtlinien heraus. Mit Wissenschaft hätten solche Empfehlungen wenig zu tun, wie Studien mit Vieltrinkern zeigen würden, sagt Perucchini. Einen Gesundheitseffekt habe bisher keine einzige Studie belegen können, das gelte auch für die Empfehlung, jeden Tag rund 2 Liter Wasser zu trinken – wissenschaftliches Fundament? Keines. Profitieren könnten höchstens Menschen in heissen und trockenen Klimaregionen, Sportler und Menschen mit gewissen Erkrankungen. Mit anderen Worten: Viel trinken – mehr, als der Körper verlangt – bringt den meisten Menschen nichts.
Kann zu viel trinken sogar schaden?
Es könne dann gefährlich werden, wenn wirklich viel zu viel getrunken werde und die Leute jedes Mass verlören. «Ich habe Patienten, die trinken sechs Liter pro Tag», sagt Perucchini. «Ich muss dann fragen: Sind Sie wahnsinnig?»
Eine Überwässerung des Körpers kann fatale Folgen haben: Sinkt die Natriumkonzentration im Blutserum wegen des Verdünnungseffekts zu stark ab, läuft das physiologische Elektrolytgleichgewicht aus dem Ruder. Die Folge: neurologische Störungen wie Übelkeit, Verwirrung, Kopfschmerzen – und schlimmstenfalls Hirnschwellungen.
Frühere Generationen, sagt Perucchini, hätten eher zu wenig getrunken. «Jetzt hat die Trinkmenge sukzessive zugenommen. Das wird auch gefördert von der Mineralwasserindustrie», sagt der Mediziner. «Man hat es fertiggebracht, zu verbreiten, dass viel Trinken unabdingbar für die Gesundheit ist.» Wasser sei zwar wichtig für unseren Körper, aber es reiche «normal zu trinken».
Auch Thomas Müller, Nierenarzt am Unispital Zürich, warnt vor einer masslosen Flüssigkeitszufuhr. «Man kann sich sogar umbringen, wenn man zu viel trinkt», sagt Müller. Der Grund: «Wenn man sich in extrem kurzer Zeit viel Flüssigkeit zuführt, kann das zu einer Verdünnung im Gehirn kommen. Das verursacht eine Hirnschwellung, die zum Tod führen kann.» Diese Fälle sind von Sportlern bekannt, die exzessiv getrunken haben und dann zusammengebrochen sind.
Parallelen zur Ernährung?
Daniele Perucchini stellt eine ähnliche Entwicklung wie in der Ernährung fest. Früher habe es geheissen, alles müsse fettarm sei. «Die Amerikaner haben noch nie so wenig Fett gegessen wie jetzt und waren noch nie so dick – man muss bei allen diesen Empfehlungen aufpassen und den gesunden Menschenverstand walten lassen.»
Der Rat des Mediziners beim Trinken: «Achten Sie einfach auf Ihr Durstgefühl. Das ist eine gute Richtschnur.» Denn diejenigen, die ständig zu viel trinken, hätten rasch eine übervolle Blase. «Das kann zu Drangsymptomen oder sogar Dranginkontinenz führen. Sie trinken viel, über Mittag gehen sie noch in ein vegetarisches Restaurant, essen Gemüse und eine Frucht – die enthalten ja auch Wasser - dann ist es relativ viel. Und dann noch einen Kaffee! Da habe ich Patientinnen, die mir sagen: ‹Es reicht mir jeweils nicht bis auf die Toilette.› Kunststück!» Oder sie stünden nachts auf, weil sie am Abend noch mehr als einen Liter getrunken hätten.
«Und dann sagen sich diese Leute irgendwann: ‹Das muss ich abklären lassen!› Aber wenn man abends noch einen Liter trinkt, ist es ja kein Wunder, wenn man morgens um drei auf die Toilette muss. Ich hatte kürzlich eine Patientin, die musste morgens fast einen Liter Wasser lösen! Das ist Wahnsinn.»
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