Schweizer an der Handball-WMWie im Aargau eine Bundesliga-Talentschmiede entstand
Sechs der neun Schweizer Bundesliga-Spieler haben eine Vergangenheit beim HSC Suhr Aarau. Das hängt mit Vertrauen, einer Vereinskultur und fehlenden finanziellen Möglichkeiten zusammen.
Die Garderoben sind klein, die Duschen alt und die Tribünen bessere Holzbänke. Immerhin wurde der Boden vor anderthalb Jahren erneuert. Kurzum: Die Aarauer Schachenhalle entspricht definitiv nicht den modernen Standards.
Doch genau aus dieser alten Handballhalle schafften zuletzt auffällig viele Handballer den Sprung nach Deutschland – in die beste Liga der Welt. Vier der letzten sieben Schweizer, die in die Bundesliga wechselten, haben eine Vergangenheit beim HSC Suhr Aarau. Dazu kommt Trainer Misha Kaufmann.
Er war zwischen 2016 und 2021 Trainer in Aarau, seither ist er in der Bundesliga bei Eisenach tätig. Kaufmann sagt: «Der Unterschied zwischen der Schachenhalle und Eisenach ist brutal, wie die Leute hier Handball leben, ist Wahnsinn.» Zu einem Spiel des HSC Suhr Aarau kommen im Schnitt 770 Zuschauende, in Kiel sind es über 10’000. «Da muss man sich zuerst dran gewöhnen», sagt Kreisläufer Lukas Laube.
Das Aushängeschild ist aber natürlich Manuel Zehnder. Der Bundesliga-Topskorer der letzten Saison fehlt an der WM verletzt. Doch auch ohne ihn stehen mit den Kreisläufern Joël Willecke und Lukas Laube sowie Torhüter Jannis Scheidiger und Flügel Gian Attenhofer vier Spieler mit Gegenwart oder Vergangenheit beim HSC Suhr Aarau im 18-Mann-WM-Kader von Nationaltrainer Andy Schmid. Sie treffen mit der Schweiz am Freitagabend in Dänemark auf Deutschland. «Das macht uns schon stolz», sagt Clubpräsident Dieter Camenzind.
Doch woher kommt diese Häufung? Kein anderes Team in der Schweiz hat eine solch beeindruckende Transferbilanz.
Jugendarbeit und Leistungskultur
Kreisläufer Lukas Laube sieht den Grund in der Jugendförderung des HSC. Er wechselte vor knapp zwei Jahren von GC, wo er eine Zwischenstation einlegte, nach Stuttgart. «Die jungen Spieler bekommen früh das Vertrauen», sagt der 24-Jährige. Das ist in Aarau zum einen Konzept, zum anderen aber auch der Realität geschuldet, weil die finanziellen Möglichkeiten kleiner sind als anderswo.
Die letzte Meisterfeier liegt fast ein Vierteljahrhundert zurück. Damals hiess der Verein noch TV Suhr. Camenzind erklärt: «Die erste Mannschaft ist zwar unser Nordstern, aber wir investieren bewusst früh und viel in den Nachwuchs.» Manuel Zehnder sei beispielsweise über das Animationsprogramm zum Handball gekommen. Der HSC besucht Schulsport, um Kindern den Handball näherzubringen. Nur in Winterthur, Kriens oder St. Gallen investieren die Vereine ebenfalls in den Nachwuchs, in Bern und Schaffhausen gar mit einer eigenen Akademie. Aber nirgendwo mit einem solchen Erfolg wie in Aarau.
Die Entwicklung hängt aber auch direkt mit Ex-Trainer Kaufmann zusammen. In seiner Amtszeit schafften die fünf späteren Bundesliga-Spieler den Sprung in die erste Mannschaft bei Suhr Aarau. «Kaufmann und der damalige Präsident René Zehnder haben zusammen eine neue Leistungskultur in den Verein gebracht», sagt Camenzind. Kreisläufer Willecke sagt: «Kaufmann hat mir den Sprung in die NLA ermöglicht und früh auf mich gesetzt.» Im Sommer wechselt Willecke zu Lemgo, weil er «die Komfortzone» verlassen wolle.
Opferbereitschaft und Verbissenheit
«Die Komfortzone» ist ein Ausdruck, den Willecke, bewusst oder nicht, von Kaufmann übernommen hat. Dessen Credo lautet: Die Komfortzone ist keine Entwicklungszone. «Ich will, dass die Spieler immer über die Grenze gehen müssen», sagt Kaufmann. Diese Kultur habe er in Suhr Aarau aufgebaut und diese hätten die Spieler nicht verloren. Bestes Beispiel ist Timothy Reichmuth. Der Linksaussen ist als einziger Schweizer Bundesliga-Spieler kein Thema in der Nationalmannschaft. Unter Kaufmann hat er in Eisenach aber seine Rolle. «Die Wichtigkeit eines Spielers definiert sich nicht nur über Spielzeit und Statistiken», sagt Kaufmann.
Er fordert von seinen Spielern «Opferbereitschaft und eine Versessenheit». Das lebt Reichmuth. Aber auch Kaufmann selbst. Seine Familie lebt in der Schweiz, er ist seit drei Jahren Trainer im 500 Kilometer entfernten Eisenach. «Darum will ich jeden Tag nutzen, wenn ich schon von der Familie getrennt bin», sagt Kaufmann.
Die Arbeit zahlt sich aus: Der THSV Eisenach stieg im ersten Jahr mit Kaufmann auf und konnte als krasser Aussenseiter die Klasse halten. Aktuell liegen die Thüringer auf Rang 8. Im Sommer verlässt Kaufmann den THSV Eisenach und wechselt zum TVB Stuttgart. Dort trifft er wieder auf Lukas Laube. «Ich freue mich», sagt Laube. Und fügt an: «Es wird sich viel verändern.» Stuttgart spielt seit Jahren unter seinen Möglichkeiten. Aktuell befindet sich der Verein im Abstiegskampf. Dies soll sich mit Kaufmann ändern.
Viel verändern soll sich in Zukunft auch in Aarau, dort ist eine neue Halle geplant.
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