Grossbritannien und die EUKeir Starmer macht vorwärts – und verbreitet düstere Stimmung
Der neue britische Premier will das Verhältnis zur EU kitten, sparen und die Steuern erhöhen. Ob er damit einen neuen Aufschwung schafft, bezweifeln viele.
Just acht Wochen im Amt, versucht Grossbritanniens Labour-Premierminister Sir Keir Starmer ein strammes Tempo vorzulegen. Mit seinem Blitzbesuch in Berlin und Paris unterstrich er am Mittwoch, wie wichtig ihm bessere Beziehungen zu den europäischen Nachbarstaaten sind.
Seine Regierung wolle das von den konservativen Tories «zerrüttete Verhältnis» zu den EU-Staaten zügig auf eine «neue Grundlage» stellen, meinte Starmer. Dafür soll zunächst ein bilateraler Pakt mit Deutschland ausgehandelt werden, danach sind Gespräche über eine Revision der ursprünglichen Post-Brexit-Vereinbarungen mit Brüssel geplant.
Wie weit geht der neue britische Premier Keir Starmer?
Wie weit sich Starmer dabei vorwagt, ist noch schwer abzuschätzen. In London existiert etwa zweifellos ein Interesse an einer engeren Zusammenarbeit in der Immigrationsfrage oder an besseren Handelsbeziehungen mit der EU.
Umgekehrt soll Kontinentaleuropa hoffen, sich mit den Briten militärisch enger zusammenschliessen zu können. Beiderseits des Kanals fürchtet man offenbar, dass mit Joe Biden die Zeit der traditionellen atlantischen Verbundenheit zwischen den USA und Europa zu Ende gehen könnte – ganz abgesehen von den gefürchteten Konsequenzen einer möglichen Rückkehr Donald Trumps ins Weisse Haus.
Auf andere Vorschläge möchte Starmer bisher jedoch nicht eingehen. Darunter zum Beispiel auf eine erleichterte gegenseitige Einreise für junge EU-Bürger und Briten. Bereits jetzt befürchtet der Labour-Chef, von den Tories des Verrats beschuldigt zu werden (lesen Sie hier mehr über Starmers Regierungsprogramm).
Die Rechtspresse im Nacken
Im Wahlkampf hatte er nämlich feierlich versprochen, den Brexit (gegen den er früher leidenschaftlich war) auf keinen Fall rückgängig zu machen. Alles, was nach Freizügigkeit und «offenen Grenzen» schmeckt, löst in der einflussreichen britischen Rechtspresse bis heute regelrechte Krampfanfälle aus.
Harsche Kritik aus dem konservativen Lager hat sich Starmer in seiner kurzen Zeit an der Regierung auch schon zu näherliegenden Themen eingehandelt. Weil er binnen Tagen grünes Licht gab für lang ausstehende Lohnanpassungen in den öffentlichen Diensten, wurde ihm vorgeworfen, den Gewerkschaften nachzugeben.
Die neue Regierung hat offenbar beschlossen, schwere Einkommensverluste gewisser Berufsgruppen aus den letzten Jahren rasch wettzumachen. So will sie zum Beispiel die bitteren Arbeitskämpfe im nationalen Gesundheitswesen beenden, die dessen Misere noch verschlimmerten. Die Aktion stiess allgemein auf Beifall. Konservative befürchteten jedoch, dass Starmer manche Gewerkschaften damit zu extravaganten Forderungen ermutigt habe.
Kritik aus der eigenen Partei
Andere Entscheidungen haben dem Premier Kritik aus der eigenen Partei eingetragen. So besteht die Starmer-Regierung darauf, dass sie es sich nicht leisten kann, eine von den Tories eingeführte Begrenzung der Sozialhilfezahlungen an kinderreiche Familien rückgängig zu machen. Diese Weigerung hat zu scharfen Protesten geführt.
Ausserdem hat Schatzkanzlerin Rachel Reeves angeordnet, dass Rentner, die nicht selbst Sozialhilfe beziehen, keine staatliche Winterbeihilfe mehr erhalten sollen. Das trifft zehn Millionen britische Rentner, von denen viele keineswegs wohlhabend sind.
In Grossbritannien ist kaum Geld da
Starmer und Reeves planen für Oktober zusätzlich neue Sparmassnahmen und Steuererhöhungen. Fast täglich erklären sie die «Notwendigkeit finanzieller Disziplin» mit dem «katastrophalen Erbe», das ihnen eine 14-jährige Tory-Herrschaft hinterliess.
Auch der Regierung wohlgesonnene Briten bezweifeln freilich, dass Starmer mit finsteren Warnungen und erneuten Austeritätsmassnahmen seine Landsleute lang wird mitziehen können – und er die Grundlage für einen neuen Aufschwung in Grossbritannien schafft.
Viel Zeit bleibt Starmer wohl kaum, bevor er den Rückhalt verliert, wenn er weiter düstere Stimmung verbreitet – und immer nur beteuert, er habe «keine andere Wahl».
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