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Stillstand während der Feiertage
Grossbritannien steht massive Streikwelle bevor

Am Dienstag traten zehntausende britische Pflegekräfte zum zweiten Mal innerhalb einer Woche in einen beispiellosen Streik: Streikende in London. (15. Dezember 2022)
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Der wichtigste Blick vor Weihnachten gilt in Grossbritannien nicht dem Adventskalender – rund um die Festtage gibt vielmehr der Streik-Kalender den Takt vor. Im Dezember gibt es kaum einen Tag, an dem nicht in irgendeiner Branche aus Protest gegen niedrige Löhne und schlechte Bedingungen die Arbeit ruht. Das öffentliche Leben steht still, die Streiks bremsen das Land aus.

Man kann den Streik-Kalender willkürlich öffnen, irgendwas findet sich bestimmt: Am (heutigen) Dienstag ist es erneut das Klinikpersonal, am Mittwoch streiken die Rettungswagenfahrer. Auch Touristen sind betroffen. Von Freitag an gehen die Grenzbeamten in den Ausstand – bis Silvester dürfte es lange Warteschlagen bei der Einreise geben, teilweise werden wohl Flüge gestrichen. Von Heiligabend an fahren dann tagelang mal wieder kaum Züge, auch beim Eurostar zwischen London und der EU könnte es zu Problemen kommen. Ohne Auto die Verwandten zum Festschmaus zu besuchen, dürfte so gut wie unmöglich werden.

In der Waterloo Station in London wird auf einen geplanten Streik hingewiesen. Passagiere werden dazu aufgerufen, nur in Notfällen mit dem Zug zu reisen. (13. Dezember 2022)

Beispiel Weihnachtspost: Bei der Royal Mail gibt es seit Monaten immer wieder Streiks. Ganze Strassenzüge erhalten derzeit höchstens einmal die Woche Post. Bergeweise liegen Briefe und Päckchen in den Depots. Kürzlich machte die Nachricht die Runde, Royal-Mail-Manager sollten Verwandte und Freunde rekrutieren, um beim Sortieren zu helfen und den Rückstau vor Weihnachten wenigstes etwas abzubauen.

Menschen demonstrieren in London für bessere Arbeitsbedingungen von Postangestellten. (9. Dezember 2022)

Wer aber bei zuletzt eisigen Temperaturen nach dem Postboten Ausschau hielt, musste umso mehr aufpassen, nicht bei Glatteis auszurutschen – die ohnehin völlig überlasteten Notaufnahmen waren noch ausgedünnter als sonst. Denn auch die Pflegekräfte des Gesundheitsdiensts NHS streiken, zum ersten Mal in ihrer Geschichte. Damit wollen sie auch Bewusstsein schaffen für die katastrophale Situation, die viele Menschen trifft. Bis zu 100’000 Pflegerinnen und Pfleger in England, Wales und Nordirland beteiligten sich an dem erneuten Arbeitsausstand am Dienstag.

«Leider haben unsere Mitglieder für den Fall, dass es keine Lösung gibt, für einen Streik gestimmt, und das Mandat gilt für sechs Monate», sagte die RCN-Direktorin in England, Patricia Marquis, am Montag dem Times Radio. Der einzige Grund für die festgefahrene Situation sei, dass es niemanden gebe, mit dem über das Problem gesprochen werden könne, sagte Marquis weiter.

«Wir brauchen mehr Geld, wir brauchen mehr Personal, wir brauchen die Sicherheit der Patienten.»

Lucy Savage von der Aintree-Universitätsklinik in Liverpool

In Grossbritannien warten mehr als sieben Millionen Menschen auf Routineeingriffe, Notärzte brauchen deutlich länger als geplant, und vor den Notaufnahmen stauen sich die Krankenwagen.

Krankenpflegerin Lucy Savage von der Aintree-Universitätsklinik in Liverpool im Nordwesten Englands sagte: «Wir brauchen mehr Geld, wir brauchen mehr Personal, wir brauchen die Sicherheit der Patienten.» Das Personal sei «überarbeitet und unterbezahlt», den nationalen Gesundheitsdienst NHS bezeichnete sie als «einzigen Scherbenhaufen». Der 45-jährige Krankenpfleger Suni George sagte, sein Gehalt habe sich in den 17 Jahren seiner Arbeit kaum verändert. «Selbst wenn es so aussieht, als ob das Jahreseinkommen gestiegen ist, haben wir nicht mehr Geld», sagte er vor demselben Krankenhaus.

Schätzungen zufolge ist das reale Lohnniveau von Krankenschwestern und Krankenpflegern seit 2010 um 20 Prozent gesunken.

Labour-Partei wittert Chance auf Machtwechsel

Aussicht auf Besserung: Fehlanzeige. Die Fronten sind verhärtet. Miteinander geredet wird kaum, das liegt auch an den tiefen ideologischen Gräben. «Die Gewerkschaften stehlen uns Weihnachten», klagt die konservative Presse. Premierminister Rishi Sunak betont: «Ich bin wirklich enttäuscht, dass die Gewerkschaften zu diesen Streiks aufrufen, vor allem an Weihnachten, vor allem wenn es solche Folgen für den Alltag der Menschen hat.» Die Regierung betont regelmässig, es sei einfach kein Geld mehr da nach den Corona-Hilfen.

Die Regierung wird von Tory-Hardlinern vor sich hergetrieben, die möglichst wenig staatliche Eingriffe wollen und die Vorzüge des Kapitalismus predigen. Die Gewerkschaften wiederum stehen klar auf Seite der oppositionellen Labour-Partei, die erstmals seit vielen Jahren wieder die Chance auf einen Machtwechsel wittert. «Die Einkommen von Familien wurden durch steigende Rechnungen und mehr als ein Jahrzehnt niedriger Löhne geschreddert», erklärt Frances O’Grady, Chefin des Gewerkschaftsbundes TUC, ihre Unterstützung für die Streiks. Verantwortlich dafür sei die verfehlte Tory-Politik. Die Streikwelle könnte noch weit bis ins nächste Jahr dauern.

Frances O’Grady, Chefin des Gewerkschaftsbundes TUC, unterstützt die Streikenden. (2. November 2022) 

Die Minister verschiedener Ressorts trafen sich am Montag zu ihrer letzten Krisensitzung, um die Auswirkungen der zunehmenden Streiks im öffentlichen Dienst abzufedern. Sie planen unter anderem, 750 Militärangehörige als Fahrer von Krankenwagen einzusetzen. Weitere 625 Soldaten sollen gemäss einer «Notfallplanung» von Freitag bis Silvester streikende Grenzschützer ersetzen.

Dass der Konflikt nicht einfach zu lösen ist, liegt am Hintergrund: Grossbritannien steckt in einer heftigen Wirtschaftskrise. Die Inflation ist mit rund 11 Prozent so hoch wie seit 40 Jahren nicht, die hohen Preise für Lebensmittel und Energie stürzen Millionen Menschen in Armut, die Tafeln kommen der rekordverdächtigen Nachfrage nicht mehr hinterher. Laut einer TUC-Studie werden 2022 die Reallöhne um 3 Prozent sinken – so viel wie seit 1977 nicht mehr. Von einer «Schande» spricht TUC-Chefin O’Grady. Die Aussichten geben wenig Anlass zur Hoffnung: Ökonomen rechnen mit einem langen Abschwung, mindestens bis Ende 2023.

«Brexit-Freiheiten» bleiben aus

Grossbritannien steht mit diesen Problemen nicht alleine da, auch in Deutschland rechnen Volkswirte mit einer Rezession. Weltweit hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine schwere Folgen ausgelöst. Doch scheint Grossbritannien noch stärker getroffen zu werden. Das liegt auch am Brexit, wie Experten betonen. Der Warenaustausch mit dem wichtigsten Handelspartner, der EU, ist eingebrochen. Der Fachkräftemangel hat sich ohne Arbeiter aus der EU noch verstärkt.

Die Realität widerspricht allen Szenarien, die die Brexit-Befürworter einst in Aussicht gestellt hatten. Lebensmittel und Energie sollten günstiger werden, gut bezahlte Jobs einfacher für Briten zu ergattern sein. Millionen sollten in den Gesundheitsdienst anstatt nach Brüssel fliessen, die «Brexit-Freiheiten» das Königreich wieder zur Handelsnation machen. Bisher ist nichts eingetreten, auch deshalb hält mittlerweile mehr als die Hälfte der Bevölkerung den EU-Austritt für einen Fehler. Die Regierung um Premier Sunak, einen Brexiteer, will davon nichts wissen. Ihr Mantra: Die Probleme seien alle durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine entstanden.

SDA/AFP/aru