Pandemie während der SommerpauseGrossbritannien steht ein «summer of chaos» bevor
Das britische Unterhaus geht in die Ferien, die Regierung hat fast alle Corona-Beschränkungen aufgehoben. Boris Johnsons Probleme aber wachsen täglich.
Man hat sich ja längst an technische Schwierigkeiten während Videokonferenzen gewöhnt, aber die Ironie dieser Situation war doch bemerkenswert. Die wöchentliche Fragerunde mit dem Premierminister im Unterhaus am Mittwoch begann mit ein paar angriffslustigen Feststellungen von Labour-Chef Keir Starmer, er stand an seinem Platz im Unterhaus, Premierminister Boris Johnson war auf den Bildschirmen an der Wand zugeschaltet, vor grauem Hintergrund sitzend. Während einer von Johnsons Antworten riss der Ton ab, weshalb ihn der Unterhaus-Sprecher Lindsay Hole unterbrach. Johnson wirkte irritiert. «Können Sie mich hören?», fragte er ein paarmal. Als er wissen wollte, ob er die Antwort wiederholen solle, schrien die Abgeordneten auf, in einer Mischung aus belustigt und entsetzt. Nein, sagte Lindsay Hole, das Ende genüge vollkommen.
Johnson ist derzeit in Quarantäne auf dem Landsitz des Premierministers in Chequers nordwestlich von London, weil er Kontakt zu einem Corona-Positiven hatte, dem Gesundheitsminister Sajid Javid. So etwas kommt vor in diesen Tagen, zumal in Grossbritannien, wo die Fallzahlen höher sind als irgendwo sonst in Europa. Gerade in dieser Woche aber, die mit dem so hochtrabend benannten «Freedom Day» begann, ist ein Premierminister mit technischen Schwierigkeiten auf seinem Quarantäne-Landgut ein Bild, das sich kein Satiriker hätte besser ausdenken können.
Im Schlauchboot über den Ärmelkanal
Es ist zugleich das letzte Bild des Premierministers im Unterhaus vor der Sommerpause. Von Freitag an pausiert das Parlament bis September. Wobei die Pause nur die Debatten betrifft, regiert wird selbstverständlich weiter, die Lage erlaubt keine Erholung. Johnsons Agenda wächst derzeit proportional zu den Fallzahlen: Sie wird täglich grösser. Das Nordirland-Protokoll, die Flüchtlinge, die Vorwürfe seines ehemaligen Chefberaters Dominic Cummings, dazu die Unsicherheit in einem Land nahezu ohne Corona-Regeln, aber voller Infizierter – es ist vielleicht ganz gut, dass Menschen in Quarantäne meist vor allem eins haben, viel Zeit.
Für die konservativen Medien ist besonders die Flüchtlingsproblematik ein dankbares Thema. Am Montag kamen mindestens 430 Menschen in Booten über den Kanal aus Frankreich ins Vereinigte Königreich, am Dienstag noch mal 287. Insgesamt stieg die Zahl der auf diesem Weg nach England Geflüchteten auf 8452, das ist schon jetzt mehr als im gesamten letzten Jahr. Innenministerin Priti Patel hat nun zugestimmt, Frankreich 62,7 Millionen Euro zu überweisen, um die Grenzsicherung auf französischer Seite zu verbessern. Es geht dabei um mehr Patrouillen und Einsätze von Drohnen.
Welche Rolle dabei die Schicksale der einzelnen Menschen spielen, die ihr Leben riskieren, um in Schlauchbooten über den Kanal zu gelangen, war am Mittwoch nicht herauszuhören. Einige konservative Abgeordnete erhöhten jedoch den Druck auf Patel, mehr zu tun, als Geld zu überweisen. Das Thema wird Patel und damit auch Johnson noch eine Weile beschäftigen.
Dominic Cummings beschiesst Boris Johnson seit seinem Ende als Chefberater im November vergangenen Jahres regelmässig und am liebsten via Twitter.
Ähnlich verhält es sich mit Dominic Cummings, auch er sorgt regelmässig dafür, dass er nicht von der Agenda des Premiers verschwindet, wenngleich sich Johnson Mühe gibt, seinen früheren Chefberater zu ignorieren. Am Dienstagabend wurde ein Interview ausgestrahlt, in dem Laura Kuenssberg, die Politikchefin des öffentlich-rechtlichen Senders BBC, Cummings befragt – und ihm mitunter fassungslos gegenübersitzt. Cummings beschiesst Johnson seit seinem Ende als Chefberater im November vergangenen Jahres regelmässig und am liebsten via Twitter, und er beansprucht für sich, die ganze Wahrheit über Johnsons Unfähigkeit erzählen zu wollen. Auch im viel beachteten BBC-Interview fuhr er in scheinbar vollkommener Offenheit über Johnson hinweg, gipfelnd in der Feststellung, er und einige andere hätten bereits Tage nach der gewonnenen Wahl erwogen, Johnson aus dem Amt des Premierministers zu entfernen.
Einer der zentralen Vorwürfe Cummings’ ist stets, Johnson werde von seiner Ehefrau Carrie Symonds gesteuert. Sie habe versucht, «komplette Clowns in Schlüsselpositionen» zu bringen, um ihren Einfluss zu vergrössern, sagte Cummings nun unter anderem. Ausserdem habe Johnson in mehreren SMS-Nachrichten sinngemäss geschrieben, es seien ohnehin nur die über 80-Jährigen, die an Corona sterben würden, es gebe also keinen Grund für einen Lockdown. Downing Street widersprach den Anschuldigungen in einem eigenen Statement.
Das vierte Mal in Quarantäne
Keir Starmer las die angebliche Johnson-SMS am Mittwoch im Unterhaus vor. Der Labour-Chef ist kein polemischer Oppositionspolitiker, am Mittwoch aber nutzte er die Gelegenheit, in physischer Abwesenheit Johnsons zumindest immer wieder darauf hinzuweisen, wie widersprüchlich der Umgang mit dem Coronavirus derzeit ist: das Aufheben nahezu aller Regeln bei gleichzeitigem Quarantänezwang für Kontaktpersonen bis zum 16. August. Dem Land stehe ein «summer of chaos» bevor, sagte Starmer. Derzeit befindet sich England vor allem in einem Sommer, der einem etwas unbritisch vorkommt. Es ist heiss, die Temperaturen stiegen täglich auf über 30 Grad. Die Cafés und Eisdielen sind voll, wobei die Unsicherheit dort besonders deutlich wird: Manche tragen Maske, andere nicht, es ist ein seltsames Hin und Her.
Kurz nach dem Ende der Fragerunde am Mittwoch wurde auch Starmer Teil des Chaos-Sommers. Eines seiner Kinder sei positiv getestet worden, teilte sein Sprecher mit, Starmer werde sich umgehend in Quarantäne begeben. Es ist für ihn bereits das vierte Mal.
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