Grenzen der DigitalisierungFür Blinde wird der Onlineshop zum Hindernislauf
Die Digitalisierung könnte das Leben vieler Menschen mit Behinderung erleichtern. Der blinde IT-Berater Luciano Butera zeigt, warum die Realität anders aussieht.
«Mobile», «Internet», «TV», «Kombiabo»: In hohem Stakkato liest der Screenreader vor, welche Seiteninhalte der IT-Berater Luciano Butera mit dem Cursor auf der Swisscom-Homepage anwählt. Vor der Tastatur hat er eine Leiste mit Brailleschrift, mit der er über die Bildschirmoberfläche navigiert.
Welche Hürden sich Sehbehinderten stellen, demonstriert Butera an seinem Smartphone. Er versucht, einen Lottoschein auszufüllen. Mit dem Finger tippt er auf die Zahlen. Der Screenreader sagt ihm aber nicht, welche Zahl er gerade angetippt hat, sondern sagt nur «Taste». Das liegt daran, dass den Zahlenkacheln kein Text hinterlegt ist, den der Reader erkennt.
Gleich ergeht es Butera auf einer Seite mit Restaurantbewertungen. Vorgelesen wird nur der Name des Restaurants, aber Butera erhält keine Informationen zur Bewertung des Lokals oder zur Speisekarte.
Denn das Bildschirmleseprogramm hilft am Computer oder Smartphone nur, wenn den Bildern, den Icons und Knöpfen unsichtbare Texte hinterlegt sind. Doch längst nicht alle Websites und Apps sind so gestaltet, dass sie für sehbehinderte Menschen benutzbar sind. Zurzeit sind in der Schweiz nur staatliche Behörden verpflichtet, digitale Dienste barrierefrei zu gestalten. Für Privatanbieter gilt diese Verpflichtung nicht.
Lieferdatum kann nicht ausgewählt werden
Die Digitalisierung biete eigentlich ein Riesenpotenzial für Menschen mit einer Behinderung, sagt Butera. Aber die Möglichkeiten könnten zu wenig genutzt werden, weil etwa Sehbehinderten bei vielen Anwendungen Hindernisse im Weg stünden. Würden die Firmen ihre Apps und Websites von Sehbehinderten auf ihre Funktionalität testen lassen, könnten viele Mängel behoben werden.
Als Beispiel nennt er Onlineeinkäufe. «Diese wären eigentlich viel einfacher, als wenn mich jemand durch die Ladenregale führen muss.» Doch er weist auf die Mängel der Apps von Onlineshops hin. Bei einem Detailhändler sei etwa die Festlegung des Auslieferdatums für Sehbehinderte schwierig, weil der Screenreader die Auswahlfelder für die Auslieferzeiten nicht lesen könne. Die Bestellung kann zwar ausgelöst werden, es wird aber einfach am erstbesten Termin geliefert.
Erklärvideos ohne Tonspur
Vor bald 30 Jahren war Butera einer der ersten blinden Informatikstudenten an der ETH Zürich, heute arbeitet der 48-Jährige beim Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband in Bern als Leiter der Fachstelle Technologie und Innovation. Er hat als IT-Fachmann bei der Nutzung digitaler Anwendungen Vorteile gegenüber anderen Sehbehinderten. Er weiss, welche Technologie in den Bildschirmanwendungen steckt.
Butera zieht seine Schlüsse, wenn immer das Gleiche auf einer Website oder bei einer App nicht funktioniert. Wenn er x-mal auf einer Onlineshopseite auf eine unbeschriftete Taste stosse, merke er irgendwann, dass es die Funktion «In den Warenkorb» sei. So kann er trotz der mangelhaften App alle zwei Monate Grosseinkäufe im Internet tätigen. Sonst geht er aber immer noch in den Laden.
Gelangt Butera erstmals auf eine Website, muss er sie komplett von oben bis unten durchscrollen, um die einzelnen Funktionen zu finden. Dabei stösst er immer wieder auf die gleichen Hindernisse. So gibt es längst nicht bei jedem Erklärvideo eine Tonspur. Für Hörbehinderte hingegen bräuchte es zwingend Untertitel, die auch nicht immer vorhanden sind.
Jedes Redesign einer Website wird zur Herausforderung. «Man hofft, dass möglichst wenig geändert wurde», sagt Butera. Schwierig sind Websites, auf denen Kacheln und Buttons dicht gedrängt sind. Eine Herausforderung seien da etwa die Newsportale.
Nationalrat lehnt Pflicht für Privatanbieter ab
Der grüne Nationalrat Gerhard Andrey forderte kürzlich mit einer Motion, dass auch private Anbieter gesetzlich verpflichtet werden, ihre digitalen Dienstleistungen behindertengerecht anzubieten. Der Vorstoss scheiterte jedoch in der Frühjahrssession knapp, obwohl Grüne, SP, Mitte und GLP das Anliegen unterstützen. Da aber 15 Mitglieder dieser Parteien bei der Abstimmung fehlten, wurde das Anliegen mit den Stimmen von FDP und SVP verworfen.
Luciano Butera hofft nun, dass der Bundesrat der Forderung nach barrierefreien digitalen Angeboten bei der laufenden Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes nachkommt. Mit einer solchen Vorschrift müsse die Verhältnismässigkeit gewahrt bleiben. «Nicht jeder Dorffussballverein muss seine Seite vollständig barrierefrei gestalten. Von kommerziellen Unternehmen sollte das aber erwartet werden können.»
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