Initiative für BehindertengleichstellungDies ist auch eine Altersinitiative
Behinderte Menschen sollen frei entscheiden können, ob sie in der eigenen Wohnung oder im Heim leben. Von den Forderungen der Inklusionsinitiative sollen auch Rentnerinnen und Rentner profitieren.
Die Schweiz hat sich 2014 mit der Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, allen Menschen die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Aus Sicht der Behindertenverbände sind diese Anforderungen in vielen Bereichen noch nicht erfüllt. Die freie Wahl von Wohnform und Wohnort sei nicht garantiert. So müssten Menschen in Heimen leben, weil die Betreuung zu Hause nicht ausreichend finanziert werde. Auch der gleichberechtigte Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln, Arbeitsplätzen, Dienstleistungen und Gebäuden sei nicht gewährleistet.
Dies soll sich mit der Inklusionsinitiative ändern, für die ab Donnerstag Unterschriften gesammelt werden. Die Initiative schreibt fest, dass Menschen mit Behinderung das Recht auf technische und personelle Unterstützung haben, um ihre Gleichstellung zu erreichen. Das Recht, die Wohnform und den Wohnort frei zu wählen, wird explizit erwähnt. Der Fokus der Initiantinnen und Initianten lag bisher aber vor allem bei Menschen, die durch ein Geburtsgebrechen, nach einem Unfall oder durch eine Krankheit behindert sind. Nun wenden sie sich bewusst auch an die ältere Bevölkerung und erweitern damit den Kreis der Nutzniessenden stark.
Ausbau von Spitex nötig
Laut Bundesamt für Statistik leben in der Schweiz 1,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung, das sind rund 20 Prozent der Bevölkerung. Darunter sind viele betagte Menschen. Dass auch diese von der Behindertengleichstellung profitieren, begründen die Initianten mit der Definition in der UNO-Konvention, auf die sich auch die Inklusionsinitiative stützt: «Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.»
Es spiele keine Rolle, ob die Behinderung genetisch bedingt, ob es ein Geburtsgebrechen sei, ob sie durch Unfall, Krankheit oder Alter verursacht werde, sagt Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel. Deshalb fielen Menschen unter die UNO-Konvention, die im Alter beispielsweise seh-, hör- oder gehbehindert seien oder unter einem anderen Gebrechen litten. Schefer ist seit Januar 2019 Mitglied des UNO-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Dass die Initianten auch ältere Menschen ansprechen, erhöht die Erfolgschancen. Denn letztlich müssen alle damit rechnen, dass sie früher oder später körperliche oder geistige Einschränkungen erleiden. Besonders angesprochen fühlen dürften sich die Senioren vom Recht auf Wohnen in den eigenen vier Wänden. Laut Schefer erfordert dieses Recht unter anderem einen Ausbau von Spitex und der Betreuungsassistenz.
Einbezug der Rentner kostet nicht zwingend mehr
Islam Alijaj gehört zu den führenden Köpfen der Inklusionsinitiative. Er arbeitet als Politikberater, sitzt für die SP im Zürcher Stadtparlament und kandidiert im Herbst für den Nationalrat. Alijaj lebt seit Geburt mit einer Zerebralparese, die zu starken motorischen Einschränkungen und einer Sprechbehinderung führt. Er benötigt eine Assistenz, um den Alltag bewältigen zu können. Allerdings reicht die von der IV finanzierte Unterstützung nicht aus.
Dass für die Initiative auch Seniorinnen und Senioren gewonnen werden sollen, bewertet Alijaj als positiv. Dass altersbedingte Einschränkungen noch immer anders bewertet würden, zeige, wie negativ besetzt das Wort Behinderung sei. Zu den Kosten, die die Umsetzung der Initiative verursacht, gibt es keine Schätzungen. Caroline Hess-Klein vom Dachverband Inclusion Handicap verweist darauf, dass etwa die Betreuung in der eigenen Wohnung nicht zwingend teurer sei als der Heimaufenthalt. Insbesondere die Kantone müssten aber einen Teil der Gelder, die heute der Heimfinanzierung dienten, in die Betreuung zu Hause investieren. Wenn es die Initiative auch betagten Menschen ermögliche, länger zu Hause zu leben, führe dies nicht zwingend zu Mehrkosten.
Der Bundesrat räumt ein, dass Menschen mit Behinderung im Alltag noch immer benachteiligt sind. Er will deshalb Arbeitgeber verpflichten, behinderten Menschen den Zugang zur Arbeit mit zumutbaren Massnahmen zu ermöglichen. Diskriminierungen im Erwerbsleben sollen explizit verboten werden. Auch sollen Dienstleistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, für behinderte Menschen zugänglich sein. Dies soll mit einer Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes geschehen. Alain Bersets Innendepartement prüft zudem, wie das selbstbestimmte Wohnen für mehr Menschen ermöglicht werden kann.
Den Initianten geht dies aber zu wenig weit, da die Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes nur diejenigen Bereiche erfasst, für die der Bund zuständig ist. Zudem sei offen, welche Verbesserungen das Parlament effektiv beschliesse. Die Inklusionsinitiative hingegen verpflichte auch die Kantone, sagt Caroline Hess-Klein.
In der Schweizer Behindertenpolitik sei lange genug über Gleichstellung geredet worden, ohne dass es ausreichende Fortschritte gebe, sagt Alijaj. Die von Sozialminister Alain Berset nun angestossene Gesetzesrevision sei ungenügend. «Sie kommt auch zu spät, denn Berset hat sich bisher wenig für Behindertenpolitik interessiert.»
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