Öffentlicher VerkehrTausende holen sich in Genf Gratis-Abos
Seit zehn Tagen fahren unter 25-Jährige gratis ÖV im Kanton Genf. Auch andere Städte und Kantone in der Westschweiz bieten verbilligte Abos – und lassen sich das Millionen kosten.

- Genf bietet kostenloses ÖV-Abo für unter 25-Jährige im Tarifverbund Unireso an.
- Das Projekt soll laut Regierungsrat Maudet das Budget der Mittelschicht entlasten.
- Auch andere Westschweizer Kantone und Städte verbilligen den ÖV.
Im neuen Jahr spielt sich in Genf Wunderliches ab. Vor den Schaltern der regionalen Verkehrsbetriebe bilden sich lange Schlangen. Der Grund: Es gibt etwas gratis – und zwar Abos für den öffentlichen Verkehr. Seit dem 1. Januar übernimmt der Kanton Genf die Kosten der Jahresabos für unter 25-Jährige im kantonalen Tarifverbund Unireso. AHV- und IV-Bezüger erhalten einen Rabatt von 50 Prozent.
Eine, die sich in der Kälte in die Schlange gestellt hat, ist Geneviève. Sie holte ein Abonnement für ihre beiden Töchter: «Das bedeutet für unsere Familie eine Ersparnis von 800 Franken pro Jahr. Jetzt können wir uns etwas gönnen.»
Schon nach wenigen Tagen ist klar, dass das Angebot in Genf auf eine enorme Nachfrage stösst. Gemäss Unireso gingen bisher über 31’000 ermässigte Abos über den Tisch, davon knapp 19’000 Gratistickets für Schülerinnen und Schüler bis 17 Jahre. Weitere 4751 Jahresbillette erhielten Genfer Jugendliche, die in Ausbildung sind. Und knapp 6000 Rentner und IV-Bezüger holten sich das Abo zum halben Preis.

Für den zuständigen Genfer Staatsrat Pierre Maudet (Libertés et Justice sociale) geht es im Projekt nur in zweiter Linie um Ökologie. Mit dem Rabatt wolle der Kanton die Budgets der Mittelschicht entlasten, «insbesondere Familien und ältere Menschen». Die Massnahmen sind für Maudet erst der Anfang: «Ich bin überzeugt, dass sich das Modell der Kostenübernahme des öffentlichen Nahverkehrs durch den Staat langfristig durchsetzen wird.» Es sei die logische Vorleistung, wenn man die Innenstädte vom «nicht berufsbedingten motorisierten Individualverkehr» befreien wolle. Die Zukunftsvision lautet also: autofreie Städte, gratis ÖV.
Kanton Waadt will ebenfalls Tickets verbilligen
Erfunden haben die Genfer die grosszügigen ÖV-Subventionen nicht. Schon seit Sommer 2022 erhalten 20- bis 25-Jährige in Ausbildung und Rentner in der Stadt und der Agglomeration von Lausanne ein Abo zum halben Preis. Bezüger von Ergänzungsleistungen fahren gratis.
Gemäss den neusten Zahlen nutzen heute über 9000 Personen dieses Angebot in der viertgrössten Stadt der Schweiz, das sind rund 15 Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Jährliche Kosten: 4,1 Millionen Franken. Dazu kommen über 10’000 Jugendliche und Kinder, die schon zuvor von Ermässigungen und Gratisbilletts profitierten.
Für das zuständige Lausanner SP-Regierungsmitglied Émilie Moeschler geht es dabei um Nachhaltigkeit und ums Soziale: «Die Veränderungen im Verkehr hin zu mehr Nachhaltigkeit dürfen keine neuen Ungleichheiten schaffen.»

Bald soll das Lausanner Modell in der ganzen Waadt zum Tragen kommen, was pro Person Ermässigungen zwischen 240 und 320 Franken bedeutet. Noch fehlt allerdings die finale Zustimmung des kantonalen Parlaments für die Massnahme, die rund 30 Millionen pro Jahr kosten würde.
Auch in weiteren Regionen und Städten der Westschweiz sind bereits ähnliche Angebote in Kraft – oder in Planung: Der Kanton Neuenburg bietet seinen Bürgern ab diesem Jahr Ermässigungen auf Jahresabos im Wert von 270 Franken an. In der Stadt Neuenburg dürfen zudem seit neustem Bezüger von Ergänzungsleistungen gratis ÖV fahren. Im Kanton Freiburg sind im Parlament Vorstösse hängig, die dem Vorbild Genfs folgen wollen.
In der Deutschschweiz geht die Rechnung nicht auf
Deutschschweizer Verkehrsexperten sehen die Projekte eher kritisch. Wenig bis nichts spreche aus seiner Sicht für weitgehende Verbilligung oder kostenlosen Verkehr, sagt Kay Axhausen, Professor für Verkehrsplanung der ETH Zürich, gegenüber SRF: «Wenn der ÖV gratis ist, fehlen die Mittel für den nötigen Ausbau.»
In der Deutschschweiz sieht es die Politik bislang ähnlich kritisch. In verschiedenen Kantonen und Städten wollten die Juso in den letzten Jahren Gratis-ÖV via Initiativen einführen. Die Projekte stürzten meist ab, bevor sie an die Urne kamen, weil sie für ungültig erklärt wurden. Das Bundesgericht stützte 2023 einen entsprechenden Entscheid des Grossen Rats im Kanton Freiburg. Die Bundesverfassung schreibe vor, dass die Kosten des öffentlichen Verkehrs «zu einem angemessenen Teil durch die von den Nutzerinnen und Nutzern bezahlten Preise» beglichen würden – somit sei Gratis-ÖV verfassungswidrig.
Wobei: Gratis trifft es ja nicht ganz. Der ÖV ist für Jugendliche in Genf nicht gratis – die Rechnung zahlt der Kanton.
Korrektur vom 13.01.2025, 18:37 Uhr: «In einer früheren Version dieses Artikels hiess es fälschlicherweise, Pierre Maudet sei parteilos. Er ist Mitglied der Partei Libertés et Justice sociale.
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