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Lebenszufriedenheit der Zwischenjahre
Midlife-Crisis: Hey, es geht wieder aufwärts!

Mit Mitte 60 ist man in etwa so zufrieden wie mit Mitte 20.
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Manche Premierministerinnen sind nun jünger als man selbst, eine Tatsache, die man eigentlich für unmöglich gehalten hatte. Politiker, waren das all die Jahre nicht diese graugesichtigen Männer aus den Abendnachrichten, die ganz offensichtlich schon auf der Welt waren, als man selbst auf sie kam? Plötzlich fällt einem auf, dass man ziemlich lange scrollen muss, um auf Website-Formularen sein Geburtsdatum zu finden.

Aus einem rein technischen Vorgang ist ein unangenehm langer geworden, für den man vermutlich auch noch eine Lesebrille braucht. Die 2020er-, 2010er-, 2000er-Jahre ploppen auf, die 90er, die 80er, 85, 84, 83, 82, 81 – wie lange geht das jetzt noch? –, endlich die 70er, na bitte, da ist ja das gesuchte Jahrzehnt. Die Botschaft dieses unerbittlichen Countdowns ist da natürlich längst angekommen: Du bist übrigens nicht mehr nur nicht mehr jung (wie lange genau war man davon überhaupt ausgegangen?), nein: Du bist sogar dabei, alt zu werden.

Wer das Leben als Wegstrecke begreift, ist nun näher am Ziel als am Ausgangspunkt. Normalerweise beschleunigt man bei dieser Aussicht seinen Gang – es ist nicht mehr weit! –, jetzt möchte man eigentlich lieber langsamer werden, nein: innehalten. Ja nicht die dunkle Seite des Mondes betreten! Ja nicht in die Verlustzone kommen, körperlich verfallen, geistig abbauen. Alt werden möchten die meisten, älter werden die wenigsten.

Willkommen in der Lebensphase zwischen Mitte 40 und Mitte 50, in der man also weder jung noch alt ist, sondern irgendwie komisch dazwischen. In der man sich, glaubt man der Forschung, recht oft in einer Krise befindet.

In der Wissenschaft wird dieses Phänomen auch als «U-Kurve des Glücks» beschrieben. Der britische Professor für Wirtschafts- und Verhaltensforschung Andrew Oswald zeigte 2008 in einer Untersuchung von Daten aus 72 Ländern, dass das Alter eines Menschen einen Einfluss auf seine Zufriedenheit hat und der Tiefpunkt mit etwa Mitte 40 erreicht sei – unabhängig von Alter, Geschlecht, Einkommen. Zuletzt veröffentlichten er und sein Team 2022 eine neue Studie, die seine These stützte, auch wenn insgesamt die Eindeutigkeit der U-Kurve nicht mehr ganz so stichfest ist wie lange angenommen, im «Psychological Bulletin» wurde dazu im vergangenen Jahr eine Meta-Studie veröffentlicht. Was bleibt, ist ein Befund: Die Jahre zwischen Mitte 40 und Mitte 50 sind Jahre des Umbruchs – und sie verunsichern viele.

Männer fahren Rennrad, Frauen lesen «Woman on Fire»

Beobachtungen der eigenen Umgebung haben das schon vermuten lassen: Väter, die plötzlich in greller Fahrradkleidung wochenends mit ihren Rennrädern über Landstrassen strampeln, um ihre Vitalität zu testen. Mütter, die einander das Buch «Woman on Fire. Alles über die fabelhaften Wechseljahre» der Frauenärztin Sheila de Liz wärmstens ans Herz legen, so komme man weitgehend beschwerdefrei durch die nächste Zeit. Männer und Frauen gleichermassen, die reihenweise schlecht schlafen, über Rückenschmerzen und «Frozen Shoulders» klagen und einander Psychotherapeuten- und Osteopathie-Adressen zustecken, damit Blockierungen aller Art gelöst und Schiefstellungen wieder gerade gerückt werden.

Dazu kommt das Gefühl für einen ersten Kassensturz, jetzt, in der Mitte des Lebens. «Man fragt sich nun: Wie fällt die Bilanz aus? Bin ich in dem Beruf, der mir Spass macht? Ist der Mensch an meiner Seite der, neben dem ich die nächsten Jahrzehnte aufwachen möchte? Man hat viele Kompromisse gemacht, jetzt wird man kompromissloser», sagt Pasqualina Perrig-Chiello.

Die Schweizer Entwicklungspsychologin und Psychotherapeutin ist eine Koryphäe für diese Zwischenjahre und auch für gelingendes Altwerden, sie hat zahlreiche Bücher dazu veröffentlicht wie «In der Lebensmitte» oder «Zwischen den Generationen» und gerade «Own Your Age. Stark und selbstbestimmt in der zweiten Lebenshälfte». Mit ihrer Forschung war sie lange ziemlich allein auf weiter Flur, denn im Gegensatz zu den Kindheits- und Pubertätsjahren und dem späten Alter war ihr Bereich, als sie anfing, «Brachland» und sehr lange nicht gerade «so sexy».

Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello

© Franziska Rothenbuehler | TAMEDIA AG

Den Begriff Midlife-Crisis, den man dann gerne mal schnell draufstempelte, hält sie für unzureichend, zu sehr klingt er in ihren Ohren nach einem Zeitgeist-Phänomen, nach Männern, die sich einen Porsche und eine jüngere Geliebte zulegen, und Frauen, die deswegen durchdrehen. Nach etwas, das rasch wieder vorbei und nicht ganz ernst zu nehmen ist. «Dabei sprechen wir hier von – natürlich recht unterschiedlichen – längeren Veränderungsprozessen, bei denen die bisherige Lebenszufriedenheit grundsätzlich auf die Probe gestellt wird.»

Es ist ein Paradox: Zu einem Zeitpunkt, an dem man eigentlich glauben könnte, an einem Höhepunkt angekommen zu sein – die ungestümen Zwanzigerjahre, die berufsanstrengenden Dreissigerjahre liegen hinter einem, ein Partner ist womöglich gefunden, das Kind aus dem Gröbsten raus, das Einkommen oft so hoch wie nie –, haben viele das Gefühl, am Boden zu liegen.

Zum Glück liegt in der U-Kurve eine sehr aufmunternde Botschaft: Hey, es geht wieder aufwärts! Mit Mitte 60 ist man in etwa so zufrieden wie mit Mitte 20, und das ist ja erstaunlich, verbindet man doch immer noch mit Jungsein Aktivität und mit Altsein Gebrechlichkeit, zieht man also eigentlich immer noch gerne eine direkte Linie von blühendem Leben Richtung Verfall. Kosmetikfirmen, Fitnessstudios und Schönheitschirurgen mit ihren Anti-Aging-Cremes, Fatburner-Programmen und schnellen Botox-Einspritzungen leben von dem Versprechen, diese Entwicklung, wenn schon nicht aufhalten, dann doch verlangsamen zu können. Weswegen die Vermutung naheliegt, dass andere Faktoren als der eigene körperliche Zustand eine Rolle spielen für bessere Laune mit zunehmendem Lebensalter. Welche aber könnten das sein? Und wie kann man den Aufwärtstrend selbst positiv beeinflussen?

Noch nie war die Lebenserwartung so hoch wie jetzt. Konnte man vor hundert Jahren noch von Glück reden, wenn man überhaupt die 50 überschritt. Dazu kommt eine bessere medizinische Versorgung, die die Wahrscheinlichkeit erhöht, nach der Talsohle des Glücks noch einige Jahre recht gesund durchs Leben zu gehen. Lange dachte man auch, die Persönlichkeit eines Menschen sei mit 40 Jahren abgeschlossen, inzwischen weiss man: Menschen können sich ihr Leben lang ändern. Aus einem Introvertierten wird vielleicht keine Rampensau mehr, aber aus einem Zaudernden durchaus noch ein Mutigerer, aus einer Zurückhaltenden eine Offenere.

Wenn man all das bedenkt – Menschen leben länger und das meist gesünder, sie können sich in ihrem Wesen doch noch ändern –, heisst das: Da geht noch was. Da ist noch längst nicht alles vorgezeichnet. Pasqualina Perrig-Chiello, die Entwicklungspsychologin, ist selbst 71 Jahre alt. Als man sie am Telefon erreicht, hört man sie beschwingt reden. In der Früh hat sie gearbeitet, dann ist sie ins Fitnessstudio gegangen, hat etwas gegessen. Jetzt das Interview. Zwei, dreimal in der Woche betreut sie ihren vierjährigen Enkel, das hatte sie sich immer gewünscht, Grossmutter zu werden.

Als Expertin gefragt: Wie sollte man an die zweite Lebenshälfte herangehen? «Jeder sollte versuchen, nach seiner Fasson zu leben, und nicht wie andere es einem diktieren wollen. Nur unter der Palme liegen ist allerdings keine Option, man braucht Aufgaben. Ich denke, man sollte planvoll an diesen Lebensabschnitt herangehen – und gleichzeitig offen für Neues sein.»

Sport hält nicht nur körperlich fit, sondern auch geistig

Sie selbst beispielsweise habe fünf Jahre eine Seniorenuni geleitet, «das wurde mir zugetragen, überraschend», das habe ihr grossen Spass gemacht. Und was hat sie sich sehr bewusst fürs Alter vorgenommen? «Ganz viele Bücher lesen. Das mache ich auch. Und seit ich 40 bin, gehe ich zwei-, dreimal die Woche ins Krafttraining.» Denn da sei die Forschungslage einfach zu eindeutig: Wer regelmässig Sport mache, bleibe länger fit – und zwar nicht nur körperlich, sondern auch geistig.

In einer Langzeitstudie untersuchte die Forscherin fitte über 90-Jährige. Sie alle hatten ein auffallend junges biologisches Alter, das man anhand der Hautfaltendicke an der Handoberfläche verlässlich messen kann. Diese überaus Rüstigen einte noch etwas: die Fähigkeit, das «Unvermeidliche akzeptieren zu können und gleichzeitig die Zügel ihres Lebens nicht aus der Hand zu nehmen».

In ihrem Buch bringt sie das Beispiel von Ulrich Inderbinen, der über hundert Jahre alt wurde und noch mit 96 als Bergführer in Zermatt arbeitete. Gefragt, wie er das schaffe, antwortete er: «Stress und Eile sind mir unbekannt. Ich lebe, wie ich klettere, mit langsamen und wohlüberlegten Schritten.» Er akzeptierte, dass er nicht mehr wie eine junge Gämse in alpinen Höhen rumhüpfen konnte, wusste aber, dass Erfahrung ein Wert ist, der ihm und seinen Anvertrauten Sicherheit gibt. Die Psyche hat einen Einfluss auf die Lebensdauer – das zeigte auch eine Studie der amerikanischen Yale University: Wer dem Alter positiv gegenübersteht, lebt im Durchschnitt sieben Jahre länger.

Hier ein kurzer Einschub: Es ist natürlich nicht nur eine Frage der körperlichen Betätigung und der geistigen Einstellung, wie zufrieden man im Alter ist. Es gibt zu viele Faktoren wie Krankheiten, Armut, Schicksalsschläge, Einsamkeit, die unvorhersehbar, nicht beeinflussbar sind. Wer heute zwischen Mitte 40 und Mitte 50 Jahre alt ist, der hat schon eine Weile gelebt, und das hat – sehr unterschiedliche – Spuren auf der Seele hinterlassen. Schmerzhafte Abschiede liegen vielleicht hinter einem. Weil die Mutter oder der Vater oder beide gestorben sind. Die Kinder nicht mehr bei einem leben. Sich manche Träume nicht erfüllt haben und es auch nicht mehr werden. Die Frage ist nur: Wie schaut man auf diese Abschiede? Wütend, wehmütig, weinerlich? Oder versucht man, wenigstens ein bisschen zu akzeptieren, dass sie zum Lauf des Lebens auch dazugehören?

Menschen seien wie Maracujas: Je mehr Falten, desto besser

Humor hilft bestimmt, um gut in die zweite Lebenshälfte zu kommen. Auch manchmal an den schönen Satz des britischen Kochbuchautors Nigel Slater zu denken, der in einem Rezept über eine Maracuja als Zutat schrieb, sie sei wie der Mensch: je mehr Falten, desto besser. Und überhaupt: Was für ein schönes Gefühl, manches zu wissen, einfach weil man älter ist, Erfahrungen gesammelt hat: Hüte dich vor Menschen, die nicht über sich selbst lachen können. Herausforderungen werden meistens kleiner, wenn man sich ihnen nähert – ähnlich wie beim Scheinriesen Tur Tur aus «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer». Sich entschuldigen ist schwer, aber man sollte es tun, denn Menschen machen Fehler, und die wenigsten sind unverzeihlich.

Eine letzte Frage an die Altersforscherin Pasqualina Perrig-Chiello: Was hätte sie gerne mit 50 gewusst, was sie heute weiss? «Ich würde sagen: Wie schön es ist, mehr Gelassenheit und Geduld zu haben.» Da fällt der eigene Blick während des Gesprächs auf ein Bild an der Wand, das man mal aus einem Magazin herausgerissen hatte: Zwei Hundertjährige, ein Mann und eine Frau, die für eine Modestrecke fotografiert wurden, sitzen in knallbunter Kleidung in diesen typischen weissen Plastikstühlen.

Für Rentnerbeige sind die erkennbar nicht zu haben. Winzig sind beide, runzelig natürlich auch, die Augen aber wiederum auf eine interessante Weise hellwach. Top gelaunt lachen sie einen an. Das sollte das Ziel sein: irgendwann einmal genauso dazusitzen.