Glosse über neue TechnologieKopfhörer mit sozialem Zunder
Unser Autor sichtet ein Baby am Handy und wird nachdenklich. Und er wird des Lust-Psychopathentums bezichtigt. Über die Tücken der modernen Technik.
Neulich wurde mir ein Kleinkind vorgestellt, das gerade gelernt hatte, auf wackeligen Beinen zu stehen. Des Sprechens war es noch nicht mächtig, doch es war bereits im Stande, ein Handy zu bedienen. Jedenfalls tippte es mit seinen Fingerchen fröhlich auf dem Display herum und gluckste dazu vor Vergnügen.
Ich fragte die Inhaber des Kindes, was es denn da so tue mit dem mobilen Fernsprechapparat. Ob es sich schon Tanz-Challenges auf Tiktok anschaue oder sich womöglich schon mit Gleichaltrigen verabrede. Die Inhaber verneinten empört. Das Kind spiele mit Tieren auf einer virtuellen Farm. Ausserdem könne es in einer App mittels eines Tier-Generators selbst Fantasietiere herstellen. Das fördere die Kreativität.
Da flackerte sie wieder auf, meine Angst, in Sachen digitaler Kompetenz sehr bald abgehängt zu werden, schlimmstenfalls bereits von glucksenden Kleinkindern mit wackeligen Beinen.
Deshalb beschloss ich, als präventive Massnahme mein elektronisches Grund-Equipment mal wieder ein bisschen aufzumodernisieren. Ich kaufte mir eine WLAN-Box, die aussieht wie ein Wohneinrichtungsgadget aus einem Science-Fiction-Film, löste ein Abo für Chat-GPT 4, und ich bestellte mir nun endlich auch den neusten Drahtloskopfhörer, der mit folgendem verheissungsvollem Satz beworben wurde: «Der integrierte V1-Prozessor schöpft das Potenzial des QN1-HD-Prozessors für künstlich intelligentes Noise Cancelling voll aus.»
«Nimm das, Kleinkind!», zischte ich, ohne genau zu begreifen, was es mit diesem QN1-HD-Prozessor genau auf sich haben könnte, «da kannst du mit deinem Tier-Generator einpacken. Hier spielt die Musik des Fortschritts.»
Der Kopfhörer wurde geliefert, und ich beschloss, das Ding einfach aufzusetzen und zu schauen, was passiert. Und ja. Es passierte Wundersames. Sämtliche Umgebungsgeräusche waren weg – vom eingebauten Geräuschunterdrücker akustisch ausradiert. Das Tram schien auf einmal geräuschlos über die Schienen zu schweben, Kleingespräche verstummten, ja die ganze Welt verstummte. Da waren nur noch ich und meine Musik. Es war ein Segen.
Eine kleine Ehekrise
Doch nach einem Monat zeitigte mein neues Hörverhalten erste zwischenmenschliche Kollateralschäden: Zuerst beschwerte sich meine Ehegemahlin, ich würde beziehungstechnisch zunehmend schweigsamer werden, was durchaus sein konnte, da mein intelligenter Kopfhörer sofort sämtliches Entertainment unterbricht, wenn er meine Stimme vernimmt. So bleibe ich zuweilen lieber stumm als ununterhalten.
Kommt hinzu, dass man das Gerät nach einem Unterbruch erst wieder zum Laufen bringt, indem man zweimal mit dem Zeigefinger auf die Hörmuschel tippt, was meine Ehegemahlin prompt als abschätzige Geste ihr gegenüber missverstand, worauf sie bereit war, dies zum Auslöser einer kleinen Ehekrise zu machen.
Im Tram drehte sich auf einmal eine vor mir sitzende Dame mit empörtem Blick nach mir um. Vermutlich hatte ich ihr wie ein Lust-Psychopath in den Nacken geatmet, was geschehen kann, wenn man seine eigenen Körpergeräuschemissionen nicht mehr zu Ohren bekommt.
Und einmal, als ich friedlich und geräuschlos spazieren ging, merkte ich nicht, dass hinter mir der Busfahrer mit Hupen und fuchtigen Gesten wohl schon seit längerer Zeit Platz zum Überholen einforderte. Vermutlich spielte er bereits mit dem Gedanken, den sonderbaren Herrn mit dem futuristischen Lauschgerät einfach über den Haufen zu fahren.
Ja, die Tücken des Fortschritts lauern überall. Vielleicht also doch besser neue Tiere generieren …
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