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J. K. Rowlings neues Kinderbuch
Glasklar, warum sie Kinder zum Lesen bringt

Twitter? Ein laues Lüftchen für diese Frau: Bestsellerin J.K. Rowling. 
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Am Dienstagmorgen hat J. K. Rowling ein Foto ihrer Schokotorte zum Buchgeburtstag auf Twitter gepostet. Sie hat den sozialen Medien also nicht ganz und gar den Rücken gekehrt, und das, obwohl ein veritabler Sturm sie vor einem Jahr von dort wegfegen wollte. Zur Erinnerung: Rowling hatte damals auf Facebook einen Text gepostet darüber, warum sie findet, dass Frauen «Frauen» genannt werden sollten und nicht etwa «Menschen, die menstruieren».

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Und dann identifizierte die Kritikerschar im Netz auch noch ihren neuen Krimi, «Böses Blut», bei uns Ende 2020 erschienen, als transphob. In Grossbritannien weigerten sich Buchläden, das Buch zu verkaufen. Kurz: Rowling sollte verschwinden, zumindest mal in den Bestsellerlisten.

Hier im Analogen kam vom Sturm höchstens ein laues Lüftchen an. Man konnte ihrem neuen Kinderbuch, «Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein», am Dienstag der Veröffentlichung beim Klettern in den Verkaufsrängen zusehen.

Das liegt vielleicht daran, dass die Schriftstellerin tatsächlich mit Leib und Seele Kinder begeistern und ihnen tröstliche Geschichten erzählen will, indem sie in ihren Geschichten jedem Kind seine eigenen Nöte und Schwächen zugesteht. Damit hat sie den Zauberlehrling Harry Potter weltberühmt gemacht. Und im «Weihnachtsschwein» bricht sie ganz nebenher eine Lanze für böse Stiefschwestern.

Jack kann anders als Harry Potter leider nicht zaubern. Aber er hat eben Schwein. Seine Geschichte spielt in der Nacht der Wunder und der hoffnungslosen Fälle, das ist jene vor Weihnachten. In dieser Nacht ist alles möglich.

Jeder, der mal ein Kind war, erschauert bei diesem Gedanken

Jack hat so viele Sorgen, dass er sein Schwein mehr braucht denn je. Der Vater ist ausgezogen, er muss die Schule wechseln, weil die Mutter in der Nähe ihrer Eltern wohnen will. Da ist ein älteres Mädchen in der neuen Schule, Holly, die sehr nett zu ihm ist – bis herauskommt, dass ihr Vater und Jacks Mutter jetzt ein Paar sind. Grund genug, jede Nacht das Frotteeschweinchen anzuheulen.

Weil aber alles immer noch ein bisschen schlimmer geht, wirft am Morgen vor Weihnachten Holly, in einem Anfall von Wut und Eifersucht, das Schweinchen auf der Autobahn aus dem Fenster. Jeder, der mal ein Kind war, erschauert bei diesem Gedanken: verschollene Kuscheltiere hinterlassen Wunden für die Ewigkeit, selbst wenn sie nicht in einem jähen Gewaltakt den ihnen zugewiesenen Kindern entrissen wurden.

Lange, bevor irgendwer auf die Idee kam, die frühkindliche Entwicklung in Phasen einzuteilen, haben Kinder wahrscheinlich auch schon gedacht, dass alles um sie herum beseelt sei. Zu abstrahieren, zu begreifen, dass nicht alles ein Eigenleben hat, müssen Menschen erst lernen. Deswegen ist es ein Dauerbrenner in Kindergeschichten, Dingen eine Seele zuzuschreiben, siehe «Toy Story» und so weiter, der «Nussknacker» von Alexandre Dumas steht am Anfang eines eigenen Genres.

Jack ist alt genug, sich nachts zu wundern, als er aufwacht und seine Spielsachen darüber diskutieren, was zu tun ist, um das abgewetzte Schweinchen DS wieder beizubringen – auch Jacks Trostpreis diskutiert mit, der Ersatz für DS, den Holly von ihrem Taschengeld bezahlen musste, fortan Weihnachtsschwein genannt.

Das Verlieren gehört zum Leben dazu

J. K. Rowling hat nicht nur einer ganzen Generation von Kindern mit ihren Harry-Potter-Büchern das Lesen beigebracht und Teenagern Englisch, sie ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen überhaupt gewesen – und liest man «Jack und die wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein», dann ist auch wieder glasklar, warum.

Rowling ist einfallsreich und fantasievoll, sie balanciert gern am Rande des Sentimentalen, ohne jemals abzurutschen, und sie kann damit sogar Erwachsenen das Wasser in die Augen treiben. Die Welten, die sie schafft, funktionieren nach moralischen Prinzipien. Man merkt ihren Büchern an, dass sie Spass daran hat, das kindliche Denken zu formen. Man kann das als moralisierend empfinden. Aber zu Kinderbüchern gehört das Moralisieren ja auch irgendwie dazu. Im besten Falle sind sie psychologisches Begleitmaterial für die Dinge, die Kindern in der Welt widerfahren und vor denen sie nicht einmal Helikoptereltern bewahren können. Das Verlieren gehört zum Leben dazu, schreibt J. K. Rowling im «Weihnachtsschwein».

Jack will das nicht lernen, er will sein Plüschtier zurück, und das Weihnachtsschwein soll ihn begleiten ins Land der verlorenen Dinge. Das ist eine riesige Zivilisationsmüllhalde, auf der Spielzeug nur eine untergeordnete Rolle spielt. Auch Erwachsene verlieren Dinge, aber andere – Kämme, Adressbücher. Klar, dass Jack und dem Weihnachtsschwein im Schattenreich des Verlusts irgendwann ein Handy begegnet. Es sind dort aber auch ideelle Dinge gelandet – neben Optimismus, Hoffnung und Glück auch ein paar verlorene Fertigkeiten, abgelegte Gewohnheiten, der abhanden gekommene Ehrgeiz einer Politikerin und einige über Bord geworfene Prinzipien.

Was nicht betrauert wurde, landet in einer schrecklichen Ödnis

Rowling gibt Jacks bitteren Tränen einen Sinn, denn im Land der verlorenen Dinge wird schwer sortiert – wer auf Erden geliebt wurde, hat es dort leicht. Das ist die innere Logik dieser Riesenmüllhalde: Das Trauern ist wichtig, denn was nicht ausreichend betrauert wurde, landet in einer schrecklichen Ödnis und wird dort gefressen. Wer aber richtig ausdauernd vermisst und beweint wird wie Jacks kleines Frotteeschwein, dessen Bauch schon ganz schlaff ist und dem die Mutter die Augen mit Knöpfen ersetzt hat, kommt an einen besonderen Ort, von dem er gar nicht mehr weg will.

Fast würde man am Anfang des Buchs, wenn das Plüschtier aus dem Autofenster geflogen ist, erwarten, dass Jacks Grosseltern oder seine Mutter, irgendwer, sich mit ihm hinsetzt und einen Facebook-Aufruf verfasst, damit andere helfen bei der Schweinjagd – aber «Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein» ist tatsächlich ein Buch ohne Internet oder soziale Medien. Es spielt in einer surrealen Welt realer Dinge, und aus J.K. Rowlings Sicht sind Facebookland und die Twittersphere nur bedingt real.

Eigentlich ist «Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein» vor allem ein Buch über den Wert der greifbaren Dinge, tief verwurzelt in der analogen Welt, wo sich nichts in Luft auflöst, sondern eher in beissenden Rauch – was altmodisch klingt, aber natürlich ganz richtig ist: Wenn irgendetwas die Klimakrise befeuert, ist es die Wegwerfgesellschaft. Den allesfressenden Verlierer, so schnappt es Jack im Land der verlorenen Dinge auf, haben Gier und Grausamkeit geschaffen. Würden die Menschen auch als Erwachsene noch alles um sie herum behandeln, als ob es eine Seele hätte, gäbe es viel, viel weniger Müll.

J.K. Rowling: «Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein». Carlsen-Verlag, 2021. 336 S., ca. 30 Fr.