Leser fragenGibt es den Corona-Blues?
Die Antwort auf die Frage, wie man nach einer Krise zur Normalität zurückkehrt.
Ich habe die Corona-Krise, Lockdown inbegriffen, bisher gut überstanden: gesundheitlich, sozial, finanziell. Und trotzdem begleitet mich seither ein Gefühl von Fragilität und Labilität, als sei etwas Wichtiges in meinem Leben aus dem Tritt geraten. Können Sie mir dabei helfen, diese irritierende Wahrnehmung zu verstehen? B. L.
Liebe Frau L.
Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, 1915, schrieb Freud den Aufsatz «Zeitgemässes über Krieg und Tod». Darin findet sich der merkwürdige Satz: «Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus, und er brachte die – Enttäuschung.» Ich glaube, es ist – gewiss neben weiteren Gründen – eine solche Enttäuschung, die Sie (und mich) erwischt hat. Freud meinte, dass die Hoffnung auf einen «ritterlichen Waffengang» zerstört wurde. Nicht nur das «schmerzlich empfundene Herabsinken von ihrer ethischen Höhe» habe die «Weltmitbürger ... überrascht und geschreckt», sondern auch «die Einsichtslosigkeit, die sich bei den besten Köpfen zeigt, ihre Verstocktheit, Unzugänglichkeit gegen die eindringlichsten Argumente, ihre kritiklose Leichtgläubigkeit für die anfechtbarsten Behauptungen».
Ich habe selbst mehrfach davor gewarnt, die Pandemie als eine Chance für eine bessere Zukunft zu begreifen. Aber ich muss rückblickend einsehen, dass sich auch bei mir – wider meine «offizielle» Überzeugung – offenbar eine solche Hoffnung eingenistet haben muss. Nicht, dass die Umwelt an Corona gesundet und eine neue Solidarität alle Menschen dieser Erde erfasst. Es war wahrscheinlich mehr die Hoffnung auf eine neue Vernunft, neuen «common sense», zu der «uns» die Bewältigung der Pandemie zwingt.
Die Eilfertigkeit, mit der vom geforderten Schutz der Alten zur Frage «Hunde, wollt ihr ewig leben?» und zur Forderung, gerade jetzt eine Patientenverfügung zu verfassen, um den Jungen beim Weiterleben nicht im Weg zu stehen beziehungsweise zu liegen; das Tempo, mit dem Partikularinteressen zum Gemeinwohl erklärt wurden; die Verbreitung von Verschwörungstheorien; die Zwanghaftigkeit, mit der Partys und Demos wider besseres Wissen durchgezogen werden mussten; die Betrügereien mit Krediten und Kurzarbeitsentschädigungen; Krisengewinnlerkarrieren wie die der beiden Youngsters von der JSVP, die sich mit Unterstützung einiger «alter Herren» eine goldene Nase mit Maskenimport verdient haben: All das brachte nach der kurzen Euphorie über das Krisenmanagement von Bundesrat und BAG die «Enttäuschung». Man könnte sich mit Freud trösten, diese Enttäuschung sei eigentlich nur eine Folge der Zerstörung einer Illusion. Ich würde sie eher als Indiz dafür nehmen, dass nicht allen Menschen die Normalität, in die wir zurückkehren, gleichermassen normal erscheint.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tagesanzeiger.ch.
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