Botschafterin des PlattenbauviertelsSie erzählt, wie es in Marzahn wirklich ist
Katja Oskamp schreibt darüber, was sie als Fusspflegerin in Berlin-Marzahn erlebt. Ein Gespräch über Vorurteile, tapfere Leute und Abstiegsangst.
Stehen die Füsse im Fussbad, gibts erst Small Talk. Fährt Katja Oskamp die Leute auf dem Stuhl, dem «pinkfarbenen Thron» hoch, um deren Nagelhäute zurückzuschieben und Hornhaut abzufräsen, werden die wichtigen Gesprächsthemen ausgepackt: Der Krebs ist zurück, der letzte Urlaub war schön, mit der Liebe will es nicht mehr klappen.
Spätestens wenn sie die Füsse zu massieren beginne, ergiesse sich eine Art «extragrosser Bekenntnisschwall», erzählt sie. «Ich drücke unten, und oben kommt es raus.» Dann entfährt sogar der 96-jährigen Kundin Mutter Noll, die ansonsten gar nichts mehr sagt, ein «Schööön», manchmal sogar ein «Wunderwunderschööön!»
Seit 2015 arbeitet Katja Oskamp als Fusspflegerin, einem Beruf, der in unserer Gesellschaft gemeinhin kein grosses Prestige geniesst, «du bist ja sozusagen zuunterst angekommen, bei den Füssen», sagt die 50-Jährige bei einem Treffen im Frühjahr in Zürich – und lacht. Immerhin darf der Beruf nun in der Schweiz ab Montag wieder ausgeführt werden – Kosmetiksalons dürfen öffnen, trotz noch nicht ausgestandener Corona-Krise. «Wir dürfen nicht arbeiten», schreibt Katja Oskamp über die momentane Lage in Deutschland.
Eigentlich ist Katja Oskamp Schriftstellerin. Doch mit Mitte vierzig, so liest man in ihrem Buch «Marzahn, mon amour», sei ihr Leben fad geworden. Kein Verlag wollte mehr drucken, was sie geschrieben hatte, das Kind aus dem Haus, der Mann krank.
Sie besuchte den Kurs «Fusspflege A». Ihre Vorbilder: die Frauen und Männer aus Marzahn, die sich ebenfalls hatten neu erfinden müssen.
Sie alle erlebten den Bruch
Der Fall der Mauer und die Wende ziehen sich wie ein Riss durch das Leben ihrer Kundschaft, entwerteten es in vielen Fällen, genauso wie ihren Wohnort Marzahn, genauso wie ihre Jobs, weil es die gar nicht mehr gab.
«Heute denken viele an Abschaum, Assis, Neonazis, zerstochene Autoreifen und Harz-IV, wenn sie Marzahn hören.» Sie, die sich selbst als «Kind des Ostens» sieht, hatte nie Berührungsängste. Katja Oskamp wuchs in einem Elfgeschosser in Berlin Prenzlauer Berg auf.
Nach Marzahn fuhr sie zum ersten Mal, als ein Junge aus ihrer Klasse Geburtstag feierte. Seine Eltern gehörten zu jenen Glücklichen, denen eine Wohnung im grössten Plattenbaugebiet der DDR zugewiesen worden war.
Die Plattenbauten wurden errichtet, um das Wohnungsproblem in der DDR zu lösen und die Leute aus heruntergekommenen Altbauten mit Klo auf dem Flur und ohne Heizung zu befreien. Die Platte galt als fortschrittlich und modern.
In ihrem Buch schreibt Katja Oskamp über das Viertel, wie sie es heute erlebt. Sie tut das mit scharfer Beobachtungsgabe – und liebevollem Blick.
Marzahn sei ordentlich und grün, Zierapfelbäume würden gepflanzt. Die Leute bezahlen hier noch aus dem Portemonnaie und nicht mit Bankkarte und in der Biertulpe gibts Bier zu anständigen Preisen.
Stolz, in Marzahn zu leben
Natürlich habe Marzahn auch Probleme, so Oskamp. «Es gibt immer Idioten, die ihren Müll aus dem 18. Stockwerk schmeissen. Doch die verteilen sich gerade in Berlin über die ganze Stadt.» Wieder lacht sie, meint es aber ernst, wenn sie anfügt, dass niemand hören wolle, dass Marzahn nicht einfach ein sozialer Brennpunkt und Ort des Abstiegs sei.
Niemand wolle hören, dass die Bewohnerinnen und Bewohner stolz seien, in der Plattenbausiedlung zu wohnen. Deren Leben, die tapfer und anständig gelebt sein wollen, seien ebenfalls nicht TV-tauglich. In Katja Oskamps Buch finden sie ihren Platz.
Und so lernt man beim Lesen etwa Frau Guse kennen, deren Füsse nach der Behandlung «das Jüngste an der ganzen Frau» sind. Frau Guse, heute 85, ohne Berufsausbildung, zwischenzeitlich Raumpflegerin, zog fünf Kinder gross – allein. «Sie ist nicht dement, sie entfernt sich nur langsam und im Rückwärtsgang von der Welt, in der sie sich auskannte: Kinder, Küche, Kaufhalle.» Herr Pietsch war in der DDR Parteifunktionär. Mit seinem Leben ohne DDR kommt er nur schlecht zurecht, mit den Frauen läufts noch schlechter.
Die meisten von Katja Oskamps Kunden sind im Rentenalter. Manchmal kommt es vor, dass sie einen Namen aus ihrer Agenda radieren muss. Wie jenen von Herrn Paulke, Erstbezügler. Er hat für die grösste Spedition der DDR unzählige Schränke und Klaviere geschleppt, ist mehrfach an Krebs erkrankt, hat die Zähne verloren.
Über seinen Krankenhausaufenthalt erzählte er der Fusspflegerin: «‹Essen war beschissen, drei Wochen bloss Suppe, zehn Kilo hab ick valorn. Aba de Zehennägel sind jewachsen.›» Dann rief seine Frau im Salon an, um den Termin abzusagen: «‹Er ist jestorben.›»
Routine macht die Zunge locker
Dass ihr die Kundinnen und Kunden viel Privates anvertrauen, liege wohl daran, dass die Fusspflegebehandlung dem immergleichen Ablauf folge. Das vermittle Sicherheit, mache den Kopf frei und die Zunge locker. «Fast wie beim Therapeuten.»
Zu Beginn sei ab und zu Blut geflossen. Heute beherrsche Katja Oskamp die Abläufe beinahe blind und versichert ihren Kundinnen und Kunden, dass ihnen ihre Füsse nicht peinlich zu sein brauchen – wie das bei den meisten der Fall sei, da zu weit weg vom Rest, immer eingepackt und dann plötzlich so nah am Gesicht der Fusspflegerin. Dabei gäbe es doch nichts Schöneres, sich ein wenig «betüddeln» zu lassen, findet sie.
Füsse aus dem Tierreich
Ihr Buch erzählt aber nicht nur von rührenden Begegnungen mit dankbaren Rentnern. Ab und an kommen ihr auch welche unter der Lupe, die der «Tierwelt» entstammen.
Der Mann, dem die Füsse gehören, ein «aus dem Leim gegangener» Sozialschmarotzer, der nach einer Stunde Schwerstarbeit nicht mal Danke sagt. Ein seltener Fall. Zudem weiss sie sich zu wehren. Komme ihr einer überheblich, werfe sie zwei, drei Fremdwörter ein. «Dann sind die jeweils verblüfft.» Wieder ein Lachen.
Arroganz aus Abstiegsangst
Eine gewisse Arroganz spüre sie auch von «westdominierten» Medien, die über ihr Buch und ihre Arbeit berichten. Es sei toll, was sie mache, so der Ton im Text. Der ungeschriebene Untertext: «Ich bin aber froh, dass ich das nicht machen muss.» Das Unausgesprochene spiegle die Abstiegsangst. Katja Oskamp hat keine Angst, aber nun mehr denn je die Gewissheit, dass es jeden treffen kann – «weggespart, beurlaubt, entlassen, das passiert in Deutschland.»
An geradlinige Lebensläufe glaubt sie nicht mehr. Es gehe darum, zuzugeben, dass es nicht immer rundläuft. Das könnten die Leute aus Marzahn, um sich danach aus der Krise rauszukämpfen. Wohl genau deshalb könnten auch jene, die nicht in Marzahn und im Osten wohnen, mit dem Buch was anfangen. Weil das irgendwann alle mal erleben.
Und so hinterlassen die Geschichten von Frau Guse, Frau Blumeier und Herrn Paulke beim Leser dasselbe, wie bei der Autorin: Bewunderung – für Leistungen, die in unserer Leistungsgesellschaft keine Beachtung finden, weil sie nicht chic inszeniert, sondern einfach tapfer erbracht werden. In Marzahn, das ja gar nicht so anders sei als Zürich, nur günstiger, sagt Katja Oskamp zum Abschied und lacht nochmals herzlich.
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