Geschichte der KriegsgefangenschaftFolter, Krankheit, Kannibalismus
Der Ukraine-Konflikt ruft die tragischen Schicksale von Kriegsgefangenen ins Gedächtnis. Ein neues Buch enthüllt Geschichten vergessener Soldatinnen und Soldaten.
Der Krieg kennt viele tragische Rollen, ganz besonders unglücklich ist diejenige des Kriegsgefangenen. Die Sieger und die Toten gehen als Helden in die Geschichtsschreibung ein. Das Schicksal der Kriegsgefangenen hingegen ist eine qualvolle Abfolge von Demütigungen und Hoffen, Misshandlungen und Warten. Und wenn sie es in die Heimat zurückschaffen, gönnt man ihnen oftmals nur einen Platz im Schatten der Geschichte.
Diese Schicksale besser auszuleuchten, das haben sich Eva-Maria Schnurr und Felix Bohr vorgenommen, Herausgeber des unlängst erschienenen «Spiegel»-Buches «Kriegsgefangene». Gerade vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs, in dessen Verlauf bereits Tausende Soldaten in Gefangenschaft gerieten, wünschen sich die Historikerin und der Historiker «eine breitere Debatte über das Thema». Die Publikation vereint Beiträge, die Journalistinnen und Journalisten des Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» verfassten, und fokussiert auf deutsche und alliierte Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. Die Texte beschränken sich indessen keineswegs auf die deutsche Perspektive, vielmehr wird das Los dieser vergessenen Soldaten, manchmal auch Soldatinnen, umfassend aufgearbeitet.
Misshandlungen in den russischen Internierungslagern
Dass sich deutsche Autorinnen und Autoren das Thema aufgreifen, ist doppelt folgerichtig: Zum einen nahm Nazi-Deutschland während des Zweiten Weltkriegs mehrere Millionen Soldatinnen und Soldaten gefangen, mehrheitlich russische. Zum anderen befanden sich Mitte 1945 rund elf Millionen deutsche Männer in Kriegsgefangenschaft; die letzten unter ihnen kehrten 1956 aus sowjetischen Lagern zurück.
Wie wenig die Rechte von Kriegsgefangenen auch heute oft gelten, zeigt sich im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Berichte von ukrainischen Soldaten, die nach Gefangenenaustauschen heimkehrten, zeichnen ein düsteres Bild von Folter, sexuellem Missbrauch, Scheinerschiessungen und tatsächlichen Hinrichtungen. Russland verweigert der UNO jeden Zugang zu ukrainischen Gefangenen.
Auch auf ukrainischer Seite kommt es zu Misshandlungen, darüber sind sich Experten von UNO und Rotem Kreuz einig, allerdings in geringerem Ausmass. Und im Gegensatz zu Russland lässt die Ukraine in ihren Internierungslagern Inspektion zu.
Über Jahrhunderte waren Kriegsgefangene der Willkür des Gegners ausgeliefert. Bis ins Mittelalter gab es kaum eine Unterscheidung zwischen Kämpfern und Zivilisten – es gab nur Besiegte. Ihnen konnte alles zustossen: von der Tötung noch auf dem Schlachtfeld über Folter und Verstümmelung bis hin zur Verschleppung eines besiegten Volkes in die Sklaverei.
Rechtliche Regelungen für den Umgang mit Kriegsgefangenen entstanden spät. 1907 hielt die Haager Landkriegsordnung, anerkannt von 36 Staaten, fest, Kriegsgefangene seien «mit Menschlichkeit» zu behandeln, sie dürften ihr Eigentum behalten und hätten einen Anspruch auf Nahrung und medizinische Versorgung.
Die deutsche Kriegspropaganda dämonisierte Rotarmistinnen als «Flintenweiber» und nannte sie «entartet».
Dem Krieg fällt allerdings immer wieder auch das Recht zum Opfer. Im Zweiten Weltkrieg gerieten etwa 35 Millionen Soldaten und Zehntausende Soldatinnen in Gefangenschaft, mehr als in jedem anderen Krieg der Geschichte. Obwohl das Kriegsrecht sie alle schützte, hing das individuelle Überleben von anderen Umständen ab: vom Geschlecht, von wem man wo gefangen genommen wurde, von der Nationalität, vom militärischen Rang.
Die geringsten Aussichten auf ein Überleben hatten russische Soldatinnen, die in die Hände der Deutschen gerieten. Die Rote Armee setzte als einzige Kriegspartei Frauen auch an der Front ein – sie kämpften als Pilotinnen, Scharfschützinnen, Panzersoldatinnen oder Funkerinnen. Die deutsche Kriegspropaganda dämonisierte die Rotarmistinnen als «Flintenweiber», nannte sie «entartet» und «fanatisch».
Die Wehrmacht-Soldaten reagierten mit Gewaltexzessen auf die Kämpferinnen, sie töteten viele gleich bei der Gefangennahme. Nur die wenigsten kamen überhaupt in ein Kriegsgefangenenlager. Die meisten wurden vergewaltigt, mit Zwangsarbeit geknechtet oder in Konzentrationslager verschleppt. Selbst wenn eine Soldatin aus deutscher Gefangenschaft zurückkehrte, war ihr Martyrium nicht überstanden. In der Heimat ächteten Partei und Bevölkerung die Kämpferinnen – sie galten als beschmutzt.
Rassismus und Rassenwahn
Sexuelle Gewalt gegenüber Soldatinnen ist ein wiederkehrendes Muster militärischer Konflikte. Auch ukrainische Kämpferinnen berichten von Vergewaltigungen und Demütigungen in der Gefangenschaft. Ohnehin ist es offensichtlich, dass das russische Militär im Ukraine-Konflikt sexuelle Gewalt als Kriegswaffe verwendet. Nicht nur gegen gegnerische Soldatinnen, sondern systematisch gegen ukrainische Frauen und Mädchen.
Hitlers Krieg in Osteuropa ist bis heute der ungeheuerlichste Verstoss gegen die Konventionen zum Schutz von Kriegsgefangenen. Die Nationalsozialisten führten einen Vernichtungskrieg. Von den 5,7 Millionen Rotarmisten, die die Wehrmacht ab 1941 gefangen nahm, starben bis 1945 mehr als 3 Millionen. Im Winter 1941/42 lag die Sterberate unter den russischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern bei 60 Prozent.
Die Deutschen verteilten sogenanntes «Russenbrot», das einen hohen Anteil an Sägemehl enthielt – ein weiteres Mittel zur Demütigung und Entmenschlichung der Gefangenen. Die eklatante Unterversorgung führte zu Fällen von Kannibalismus unter den Kriegsgefangenen. Kaum mit Kleidung versorgt, gruben sie sich Erdhöhlen, um der Winterkälte zu entkommen.
Rassismus und Rassenwahn bestimmten im Laufe der Geschichte immer wieder die Haltung gegenüber Kriegsgefangenen.
Rassismus und Rassenwahn bestimmten im Laufe der Geschichte immer wieder die Haltung gegenüber Kriegsgefangenen. Verhängnisvoll war dies für viele afrikanische Soldaten, die während des Ersten und Zweiten Weltkriegs für koloniale Mächte in den Kampf zogen. In Gefangenschaft geraten, erhielten sie im Vergleich zu ihren weissen Kameraden minderwertige Unterkünfte, weniger medizinische Versorgung, schlechteres Essen. In der französischen Armee dienten während des Zweiten Weltkriegs rund 100’000 afrikanische Soldaten. Kurz nach der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 ermordeten Wehrmachtseinheiten rund 3000 afrikanische Kämpfer – obwohl diese sich bereits ergeben hatten oder verwundet waren und nicht mehr im Kampf standen. Nicht ein einziger der beteiligten deutschen Soldaten und Offiziere musste sich nach dem Krieg vor einem Kriegsverbrechergericht für diese Taten verantworten.
Bis heute haben praktisch alle Staaten die dritte Genfer Konvention zum Schutz der Kriegsgefangenen unterzeichnet, sie stammt aus dem Jahr 1949. Dennoch nehmen die Kriegsverbrechen an inhaftierten Soldatinnen und Soldaten kein Ende, vielmehr spiegeln sich in ihnen die tiefsten Abgründe menschlicher Grausamkeit wider – das belegt der in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienene Band mit beklemmender Evidenz.
Im Mai 2004 gelangten Bilder an die Öffentlichkeit, die wie wenige andere Zeugnisse für dieses Grauen stehen: die Fotos aus dem US-amerikanischen Gefängnis Abu Ghraib im Irak. Sie zeigen, wie Soldaten und Soldatinnen Gefangene demütigen und foltern und sich dabei fotografieren. Diese Fotos lösen heute noch Empörung und Bestürzung aus – umso mehr, als nicht irgendein obskures Unrechtsregime Täter ist, sondern der damalige Weltpolizist, die USA.
Kriegsgefangene. Herausgegeben von Felix Bohr und Eva-Maria Schnurr. DVA, München 2023, ca. 22 Fr.
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